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Von Wissen, Vertrauen und Ernährungsumwelten Gesellschaft und Bildung für nachhaltige Ernährung

Antje Risius

/ 15 Minuten zu lesen

Warum haben wir in Deutschland den Weg zu einem nachhaltigen Alltagsbewusstsein bei der Ernährung (noch) nicht geschafft? Welche Rolle spielen individuelles Wissen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Umsetzung eines nachhaltigen Ernährungsstils?

Ernährung gilt als eines der Kernthemen für die Transformation hin zu einer "nachhaltigen Gesellschaft": Ernährung ist ein Querschnittsthema; sie betrifft mehrere Bereiche direkt und ist indirekt mit allen Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen (SDGs) verbunden. Ziehen wir beispielsweise das SDG-12 "Verantwortungsvoller Konsum und Produktion" heran: Die heutige Lebensmittelversorgungskette verursacht 13,7 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente, das entspricht 26 Prozent der anthropogenen Treibhausgasemissionen. Weiter verursacht die Nahrungsmittelproduktion etwa 32 Prozent der globalen Bodenversauerung und etwa 78 Prozent der Eutrophierung von Gewässern. Diese Emissionen verändern die Artenzusammensetzung der natürlichen Ökosysteme grundlegend und können die biologische Vielfalt sowie Widerstandsfähigkeit verringern. Da die Primärproduktion des Lebensmittelsektors meist im natürlichen Umfeld stattfindet, stellen nicht-nachhaltige Praktiken auch eine Gefahr für die langfristige Sicherstellung des Lebensmittelangebots dar. Nachhaltige Praktiken zur Produktion von Lebensmitteln hingegen bergen die Chance, auch positiv auf die Regeneration der natürlichen Umwelt zu wirken und die planetaren Grenzen nicht noch weiter zu strapazieren.

Auch aus der Definition der UN Food and Agriculture Organization (FAO) von nachhaltiger Ernährung wird die Vielschichtigkeit und Relevanz der Thematik für eine nachhaltige Entwicklung deutlich: "Nachhaltige Ernährung hat geringe Auswirkungen auf die Umwelt, trägt zur Lebensmittel- und Ernährungssicherheit bei und ermöglicht heutigen und künftigen Generationen ein gesundes Leben." Weiterhin "schützt und respektiert nachhaltige Ernährung die biologische Vielfalt sowie die Ökosysteme, ist kulturell angemessen, verfügbar, wirtschaftlich gerecht und erschwinglich, ernährungsphysiologisch angemessen, sicher und gesund und verbessert gleichzeitig die natürlichen und menschlichen Lebensgrundlagen." Nachhaltige Ernährung betrifft also nicht nur Entscheidungen von Einzelnen, sondern uns alle als Gesellschaft.

In diesem Beitrag möchte ich einen Blick auf die Frage werfen, warum selbst wir in Deutschland, als eine Gesellschaft der "Luxushemisphäre", den Weg zu einem nachhaltigen Alltagsbewusstsein speziell für den Bereich der Ernährung noch nicht geschafft haben. Dabei möchte ich darstellen, welche Chancen in der gemeinsamen Betrachtung von (gesellschaftlichen) Umwelten sowie in Bildung und Kommunikation liegen, um Umsetzungsmöglichkeiten im Kleinen wie im Großen zu reflektieren.

Status quo

Ernährung bedeutet zunächst, die biologischen Grundbedürfnisse für eine funktionierende Homöostase zu erfüllen, also die Versorgung mit ausreichend Nährstoffen und Wasser in einem ausgewogenen Verhältnis. Ernährung wird dabei im naturwissenschaftlichen Sinne auf Substanzen heruntergebrochen, deren Anteile in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen sollten. Das Konzept der nachhaltigen Ernährung geht darüber hinaus und zielt auf eine Homöostase, die sowohl für jetzige als auch für kommende Generationen eine ausreichende hochwertige Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellt.

Für die Umsetzung nachhaltiger Ernährung gibt es hilfreiche Operationalisierungen. Die Empfehlungen der Vollwerternährung etwa basieren auf den Leitlinien für nachhaltige Entwicklung der Brundlandt-Vereinbarung von 1987, nach der jegliche Produktion in den Bereichen Umwelt, Soziales und Wirtschaft gleichwertig zusammengebracht und um die Ebene der individuellen Gesundheit ergänzt wird. Geraten wird, pflanzlichen Lebensmittel den Vorrang zu geben und tierische Lebensmittel nur in geringem Umfang zu verzehren; ökologische Produktqualitäten zu bevorzugen; zu gering verarbeiteten Lebensmitteln zu greifen; auf die Umweltverträglichkeit verpackter Produkte zu achten; faire Handelsströme zu präferieren; und genussvolle und bekömmliche Speisen zu verzehren.

Zu sehr ähnlichen Empfehlungen kommt die EAT-Lancet Kommission auf Basis der Berücksichtigung planetarer Grenzen. Die planetaren Grenzen markieren eine Lebensmittel-Produktions-/Konsumptions-"Grenze" für die Wahrung von balancierten Umweltsystemen: Innerhalb dieser Grenzen kann die Menschheit sicher operieren, außerhalb sind Stabilität und Widerstandsfähigkeit des planetaren Ökosystems gefährdet. Die auf Basis des "sicheren Grenzbereichs" errechnete Planetary Health Diet (PHD) umreißt ein bestmögliches individuelles Ernährungsmuster sowohl für die humane als auch für die planetare Gesundheit. Es wird empfohlen, eine breite Vielfalt an pflanzlichen Lebensmitteln zu konsumieren, den Verzehr tierischer Lebensmittel hingegen zu beschränken; sich dabei im Allgemeinen ein eher moderates Konsumverhalten anzueignen; Lebensmittel aus regenerativer landwirtschaftlicher Produktion zu bevorzugen; beim Einkauf die Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen Lebensmittel gehandelt wurden – etwa Fairtrade oder social responsible farming – sowie (Agro-)Biodiversität abzubilden; Abfälle zu vermeiden; und die Eigenproduktion zu erhöhen, also häufiger selbst zu kochen.

Mit diesen Empfehlungen liegt die PHD recht nah an den Empfehlungen der Vollwerternährung. Letztere bildet im Prinzip auch einen Orientierungsrahmen für die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Insgesamt unterscheiden sich die Leitlinien hinsichtlich der Quantifizierung einzelner Produktgruppen durchaus und könnten stärker Nachhaltigkeitskriterien integrieren. Dennoch ist die Richtung ähnlich – in der Wissenschaft herrscht Einigkeit, dass tierische Produkte nur in Maßen konsumiert werden, dafür aber frische und pflanzliche Produkte einen größeren Anteil haben sollten, und dass die Ressourcen insgesamt umsichtig eingesetzt werden sollten. Letzteres bedeutet etwa, Lebensmittel aus regenerativen landwirtschaftlichen Systemen zu beziehen und Lebensmittelabfälle sowie einen übermäßigen Konsum, besonders von hochverarbeiteten Snackprodukten, zu vermeiden.

Auf Basis dieser Umsetzungsleitlinien stellt sich die Frage, wie stark ein nachhaltiger Ernährungsstil bisher in der Gesellschaft verbreitet ist. Um den Status quo zu definieren, möchte ich zwei Bereiche exemplarisch herausstellen – zunächst den Fleischkonsum. Die Empfehlungen der PHD liegen hier bei durchschnittlich 13 bis 45 Gramm, die der DGE bei durchschnittlich 45 bis 85 Gramm pro Kopf am Tag. Lag der Fleischkonsum in Deutschland 2018 noch bei 167 Gramm pro Kopf am Tag, betrug er 2021 150 Gramm, bei sinkendem Trend, jedoch immer noch weit von den empfohlenen Werten entfernt. Weitere Vergleiche zeigen, dass die Ernährungsmuster insgesamt noch nicht den Empfehlungen entsprechen. So beträgt etwa im Bereich des Gemüsekonsums die mittlere Verzehrsmenge 134 Gramm pro Kopf am Tag, während die Empfehlungen sowohl der DGE als auch der PHD mit durchschnittlich etwa 400 Gramm deutlich darüber liegen. Blicken wir ergänzend auf die Marktdaten für ökologisch produzierte Lebensmittel als Beispiel für Erzeugnisse aus einem regenerativen Landbausystem, so ist erstaunlich, dass der Umsatz von Bio-Lebensmitteln nur etwa 7 Prozent ausmacht und damit noch immer eine verhältnismäßig kleine Rolle bei der tatsächlichen Lebensmittelwahl spielt, obwohl Verbrauchende häufig die Kriterien von ökologisch produzierten Lebensmitteln schätzen und sogar 85 Prozent angeben, ökologische Produktqualität zumindest manchmal beim alltäglichen Lebensmitteleinkauf zu berücksichtigen.

Individuelle Beurteilungskompetenz

Wenn es darum geht, Nachhaltigkeit zu beurteilen, stehen Verbrauchende häufig vor großen Herausforderungen. Grundsätzlich haben sie durchaus ein Interesse an Nachhaltigkeitsbelangen im Allgemeinen und bei Ernährung im Speziellen. Nachhaltige Lebensmittelqualität umfasst aus ihrer Perspektive vor allem drei Dimensionen: ökologische, lokale und ethische Produktion. Angesichts der deutlichen Diskrepanz zwischen Nachhaltigkeitsinteresse und Umsatzzahlen am Markt ist jedoch anzunehmen, dass andere Attribute, wie der Preis oder der Geschmack, diese Nachhaltigkeitsattribute ausbooten.

In der Regel sind nachhaltig produzierte Lebensmittel teurer, da die Produktionskosten höher, die produzierten Mengen geringer und die Marketing- und Vertriebskanäle weniger effizient sind. Darüber hinaus sind Preise für Bio-Lebensmittel oft höher, da sie eine Reihe anderer externer Kosten berücksichtigen, die bei konventionell hergestellten Lebensmitteln nicht anfallen, wie Qualitäten im Umweltschutz. Allerdings ist in diesem Zusammenhang interessant, dass nur 46 Prozent der Verbrauchenden angeben, den Preis als wichtiges Kriterium bei Lebensmitteln zu beachten. Dies legt die Vermutung nahe, dass ein höherer Preis nicht das einzige Hindernis für eine bessere Akzeptanz ist. In der Tat besteht bei entsprechender Aufklärung durch Bildungs- und/oder Kommunikationsmaßnahmen nicht nur ein Interesse für regenerative Formen der Landwirtschaft, sondern auch eine erhöhte Akzeptanz, die sich etwa in einer größeren Bereitschaft niederschlägt, einen höheren Preis für "besseres Fleisch" zu zahlen und dafür weniger häufig Fleisch zu essen.

Dabei ist relevant, dass die Nachfrage nach nachhaltig produzierten Lebensmitteln zunächst von zwei Besonderheiten bestimmt wird: Erstens ist die Ernährungsqualität nicht direkt durch die Verbrauchenden erfahrbar und beurteilbar. Sie müssen der deklarierten Produktionsqualität am Ort der Entscheidung, meist beim Kauf, vertrauen. Zweitens müssen die Verbrauchenden in der Lage sein, die deklarierte Lebensmittelqualität zu unterscheiden, zu verstehen und in den Alltag zu integrieren. Der Schluss, dass es einer umfassenden Ernährungsbildung bedarf, liegt deshalb nah.

Im Jargon des Marketings wandelt ein erfolgreicher Kommunikations- beziehungsweise Zertifizierungsprozess das Produkt von einem Glaubwürdigkeits- in ein Suchattribut, dessen Eigenschaften von Verbrauchenden beim Kauf direkt bewertet und eingeordnet werden können. Um Vertrauen aufzubauen, werden Informationen über das nachhaltig produzierte Gut an die Verbrauchenden weitergegeben. Diese Kommunikation kann auf vielfältige Weise erfolgen, findet aber in Bezug auf Lebensmittelqualitäten bislang hauptsächlich über Zertifikate ("Labels") statt, die bestimmte Produktionsprozesse garantieren. Die Informationen, die durch Kennzeichnungssysteme bereitgestellt werden, stellen aber häufig auch eine Herausforderung dar: Verbrauchende haben Schwierigkeiten, die Qualitäten der Etiketten zu spezifizieren und äußern sich mitunter auch skeptisch gegenüber den Kontrollsystemen, besonders wenn diese unbekannt oder geografisch entfernt sind. Gleichzeitig ist der Wissensstand der Verbrauchenden zu landwirtschaftlicher Produktion meist gering. Dabei ist Wissen über die Systeme und Qualitäten der Lebensmittelproduktion eine Voraussetzung für die Bewertung von Lebensmittelzertifikaten.

Außerdem bleibt die Nutzung von Nachhaltigkeitssiegeln bei der Kaufentscheidung insgesamt gering, obwohl in den vergangenen Jahren viele verschiedene Siegel auf den Markt gekommen sind. Manchmal können Verbrauchende aus logistischen oder zeitlichen Gründen die Qualitäten nicht explizit beurteilen, fühlen sich von den existierenden Zertifikaten überfordert oder haben andere (soziale) Gründe der Alltagsgestaltung, die gegen die extensive Nutzung der Produktinformation sprechen.

Aktuell ist fraglich, ob die gesellschaftlich etablierten Strukturen der (Ernährungs-)Bildung effizient genug organisiert sind, um die alternativen Möglichkeiten darzustellen und zu positionieren. Hinzu kommt, dass die in der Bildungspolitik geltenden Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses eine umfassende, mitunter kontroverse Darstellung aller Positionen zu einem Thema erfordern. Das kann im Bereich der nachhaltigen Ernährungsbildung gegebenenfalls ein Hindernis darstellen. Denn diese Art der Vermittlung der Ausgangssituation läuft in der Praxis auf einen Minimalkonsens hinaus, und Orientierung und Entscheidungsfindung werden den Einzelnen überlassen.

Zugleich werden die Bewertung der Nachhaltigkeit und die entsprechenden Kennzeichnungssysteme immer noch von Umweltaspekten dominiert – nur ein kleiner Teil der Nachhaltigkeitssiegel berücksichtigt Aspekte der ethischen oder lokalen Produktion. In den vergangenen Jahren haben sich die Verbrauchenden jedoch zunehmend für diese Qualitäten interessiert, etwa für die Herkunft der Lebensmittel, die ethische Qualität und den Tierschutz. Verbrauchende in Deutschland sind besonders umsichtig, wenn es um lokale Produktion geht – 83 Prozent geben an, beim Kauf von Lebensmitteln häufig auf die regionale geografische Herkunft zu achten. Daher erfüllen die bestehenden Nachhaltigkeitssiegel möglicherweise (noch) nicht die Kriterien, die Verbrauchende von einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion erwarten.

Rahmenbedingungen von Entscheidungen

Neben den natürlichen planetaren (Produktions-)Grenzen ist die Umsetzung von Ernährungsstilen von makro-, meso- und mikroökonomischen sowie von soziokulturellen Umwelten beeinflusst und von individuellen Präferenzen und Prägungen gezeichnet. Wenn etwa der Umsatz von Bio-Lebensmitteln nur rund 7 Prozent des Lebensmittelmarktes ausmacht, dann bedeutet dies nicht nur, dass die Nachfrage im Alltäglichen nicht umfassend vorhanden ist, sondern auch, dass es (bisher) kein ausreichendes Angebot gibt. In den kulturellen Konfigurationen unserer "Luxushemisphäre" leben wir hingegen in einem "adipösen" Umfeld, in dem ungesunde Lebensmittel immer und zu einem vergleichsweise günstigen Preis verfügbar sind, sich jedoch kaum einfache Optionen für eine gesunde, nachhaltige Ernährung im Alltag finden. Stattdessen erfordert die Umsetzung nachhaltiger Ernährungspraktiken von den Einzelnen viel Kreativität und Planung.

Die Lebensmittelproduktion ist, wie jede andere Produktion auch, eingebunden in einen soziopolitischen Handlungsrahmen, in dem die Lebensmittel in der Folge meist auch vermarktet werden. Dieser wiederum ist stark verflochten mit politischen Rahmen auf kommunaler, regionaler, nationaler, aber auch internationaler Ebene. Damit nachhaltige Produktqualität über all diese Ebenen "verteilt" werden kann, bedarf es eines gesellschaftlichen Rahmens, der etwa in Form von Verordnungen, wie der EU-Öko-Verordnung, die zum Beispiel auch die Beschreibung "Bio-Lebensmittel" oder "ökologisches Lebensmittel" als Synonym definiert, sowie Handelsabkommen und entsprechende Standards festlegt. Diese zusätzlichen Instrumente bedürfen wiederum eines hohen Maßes an Organisation sowie an zwischenmenschlichem und institutionellem Vertrauen, um keine Informationsasymmetrie entstehen zu lassen, die wiederum zu einem ineffizienten Marktgeschehen führen würde.

Entscheidungen für ein Lebensmittel oder gar einen Ernährungsstil werden immer im Wechselspiel von Rahmenbedingungen und individuellen Neigungen, aber auch soziokulturellen Normen und Rahmenbedingungen getroffen. Vertrauen in nachhaltige Produktqualität entsteht nicht allein rational. Das trifft auch ganz konkret die Handlungslogik im Privathaushalt: Die Auswahl von Lebensmitteln folgt häufig einer Routine und ist damit nicht allein durch kognitives, rationales Wissen begründet. Der Lebensmitteleinkauf ist dabei einerseits sehr alltagsnah, also regelmäßig – hier spricht man von einer "Stabilität des Warenkorbs" –, und kann andererseits gleichzeitig situativ sehr unterschiedlich begründet sein, beispielsweise sozial vor dem Hintergrund bestimmter Anlässe.

Nachhaltige Ernährung ist viel mehr als "nur" der Einkauf oder Nichtkauf und das Vertrauen in beispielsweise ökologische Produktqualität. Nachhaltige Ernährung bedeutet in vielerlei Hinsicht, sich aktiv mit der Vielschichtigkeit des Alltagshandelns zu beschäftigen, eine aktive Rolle für eine bestimmte Qualität sowie explizit Verantwortung für eine frische Zubereitung zu übernehmen und entsprechende Zeit- und Energieressourcen einzubringen. Haushalte sind beim Thema Ernährung also viel mehr aktive Produzenten als passive Rezipienten oder Nachfragende von diesem oder jenem Produkt.

Nachhaltige Ernährung als Prozess

Die Verknüpfung zwischen Wissen und Vertrauen stellt die Interdependenz kultureller und soziologischer Faktoren, die Ernährungsentscheidungen beeinflussen, bereits deutlich heraus. Da es sich bei Vertrauen um ein komplexes soziologisches Konstrukt handelt, muss auch der Aufbau von Vertrauen kontextuell verstanden werden. Für Vertrauen spielt vorhandenes beziehungsweise neu aufgebautes Wissen eine wesentliche Rolle, verleiht es doch Sicherheit im Alltagshandeln. Wissen unterstützt die Impulse aus der Inspiration und der beurteilbaren Qualität, zum Beispiel Preis oder Geschmack, sodass Produkte auch als "authentisch" nachhaltig wahrgenommen werden.

Verbrauchende entwickeln Vertrauen auf vielfältige Art und Weise. Darunter fallen personelle, systemische, kognitive und affektive Formen des Vertrauens, die sich überschneiden können. Das bedeutet, dass das Vertrauen in eine bestimmte Person, etwa einen Produzenten, auch auf die mit dieser Person verbundene Organisation, etwa einen Verband, oder auch auf das produzierte Lebensmittel selbst übertragen werden kann, mithin also sowohl auf kognitivem Wissen als auch auf emotionalem Wohlwollen beruhen kann. Umgekehrt werden Vertrauensmängel auch innerhalb dieser sich überlappenden Dimensionen sichtbar.

Urteile und Entscheidungen werden dabei stärker von unbewussten emotionalen Gesichtspunkten beeinflusst als von rational-kognitiven Bewertungen, sodass Menschen oftmals emotionsbasierte Präferenzen für bestimmte Optionen annehmen, ohne diese Entscheidungen rational zu prüfen. Zudem wirken negative Gedanken, Gefühle oder Erfahrungen stärker als neutrale oder positive Ereignisse, selbst wenn diese mit der gleichen Intensität auftreten. Dieses sozialpsychologische Phänomen wird als "Negativitätsbias" bezeichnet. Misstrauen kann daher als dominanter Faktor bewertet werden, der schwieriger abzubauen ist, als Vertrauen aufgebaut werden kann.

Für die Perspektiven nachhaltiger Ernährung ist es wichtig, dass neben einer umsichtigen Kommunikations- und Bildungsarbeit auch nachhaltigere Angebote erschlossen und ausgebaut werden, weitere Vermarktungs- oder Verfügbarkeitskanäle geschaffen und etablierte Distributionswege effizienter genutzt werden, damit Individuen im Alltag schneller auf Alternativen zurückgreifen können. Für eine langfristige Veränderung individueller Ernährung scheinen drei Faktoren besonders wichtig zu sein: ein "auslösendes Moment", wie etwa Krisen; Information und Wissen über Ernährung, Umwelt, Gesundheit und Tierschutz; sowie Verantwortungsgefühl. Für die Verstetigung eines anderen Lebensstils sind darüber hinaus psychosoziale Kompetenzen wie Selbstkritik und Verbundenheit mit anderen/m zentral.

Der Wandel hin zu einer nachhaltigen Ernährungsform ist eng mit Fragen der gesamtgesellschaftlichen Transformation verknüpft. Explizit scheinen also Beziehungsmuster des Individuums zur Umwelt und zu sich selbst oder auch die Produktionsleistung des einzelnen Haushalts tragend und umsetzend für eine gelingende nachhaltige Ernährung zu sein. Während Ernährung klassischerweise im naturwissenschaftlichen Sinne auf einzelne Substanzen heruntergebrochen wird, deren Anteile in ausreichendem, ausbalanciertem Maße zur Verfügung stehen und nun zudem nachhaltigen Produktionsansprüchen genügen sollten, fehlen in den meisten Betrachtungsweisen die prozessualen, gestalterischen und dynamischen Anteile. Es ist an der Zeit, interdisziplinär nach Lösungen im Sinne eines systemischen Design-Ansatzes zu suchen und diese auch in unterschiedlichen kulturellen Konfigurationen zu verstehen und weiterzuentwickeln.

Ernährung wird uns als Gesellschaft immer "beschäftigen". Vielleicht kann sie, gemäß der umfassenden Definition nachhaltiger Ernährung der FAO, zu einem größeren Wohlbefinden in allen Lebensbereichen führen. Die Einbettung in das soziale Gefüge und deren Institutionen sowie die natürlichen Umwelten sind dafür essenziell.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Walter Willett et al., Food in the Anthropocene: The EAT–Lancet Commission on Healthy Diets from Sustainable Food Systems, in: The Lancet 10170/2019, S. 447–492.

  2. Vgl. Joseph Poore/Thomas Nemecek, Reducing Food’s Environmental Impacts Through Producers and Consumers, in: Science 360/2018, S. 987–992 (Erratum 2019: Externer Link: https://doi.org/10.1126/science.aaw9908).

  3. Siehe Externer Link: http://www.fao.org/nutrition/education/food-dietary-guidelines/background/sustainable-dietary-guidelines/en.

  4. Vgl. Karl von Koerber/Thomas Männle/Claus Leitzmann, Vollwerternährung. Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährung, Stuttgart 2012.

  5. Vgl. Johan Rockström et al., Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity, in: Ecology and Society 2/2009, Artikelnr. 32.

  6. Vgl. Willett et al. (Anm. 1).

  7. Vgl. Anna-Lena Klapp/Nico Feil/Antje Risius, A Global Analysis of National Dietary Guidelines on Plant-Based Diets and Substitutions for Animal-Based Foods, in: Current Developments in Nutrition 11/2022, Externer Link: https://doi.org/10.1093/cdn/nzac144.

  8. Vgl. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, Bericht zur Markt- und Versorgungslage mit Fleisch 2022, April 2022, S. 23.

  9. Vgl. Christina Breidenassel et al., Einordnung der Planetary Health Diet anhand einer Gegenüberstellung mit den lebensmittelbezogenen Ernahrungsempfehlungen der DGE, in: Ernährungs Umschau 5/2022, S. 56–72.

  10. Vgl. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (Hrsg.), Branchenreport 2022, Berlin 2022, S. 24.

  11. Vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Ökobarometer, Berlin 2023; Klaus G. Grunert/Sophie Hieke/Josephine Wills, Sustainability Labels on Food Products: Consumer Motivation, Understanding and Use, in: Food Policy 44/2014, S. 177–189.

  12. Vgl. Angela Browne et al., Organic Production and Ethical Trade: Definition, Practice and Links, in: Food Policy 1/2000, S. 69–89; Marylyn Carrigan/Isabelle Szmigin/Joanne Wright, Shopping for a Better World? An Interpretive Study of the Potential for Ethical Consumption Within the Older Market, in: Journal of Consumer Marketing 6/2004, S. 401–417; Katrin Zander/Ulrich Hamm, Consumer Preferences for Additional Ethical Attributes of Organic Food, in: Food Quality and Preference 5/2010, S. 495–503; Katrin Zander et al., Erwartungen der Gesellschaft an die Landwirtschaft, Thünen-Institut, September 2013, Externer Link: http://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn052711.pdf.

  13. Vgl. Carmen Valor/Isabel Carrero/Raquel Redondo, The Influence of Knowledge and Motivation on Sustainable Label Use, in: Journal of Agricultural and Environmental Ethics 4/2014, S. 591–607; BMEL (Anm. 11).

  14. Vgl. Dan Petrovici et al., Nutritional Knowledge, Nutritional Labels, and Health Claims on Food: A Study of Supermarket Shoppers in the South East of England, in: British Food Journal 6/2012, S. 768–783.

  15. Siehe Externer Link: http://www.fao.org/organicag/oa-faq/oa-faq5/en.

  16. Vgl. BMEL , Deutschland, wie es isst. Der BMEL-Ernährungsreport 2020, Berlin 2020, S. 17.

  17. Vgl. Maureen Schulze/Achim Spiller/Antje Risius, Food Retailers as Mediating Gatekeepers Between Farmers and Consumers in the Supply Chain of Animal Welfare Meat – Study Retailers’ Motives in Marketing Pasture-Based Beef, in: Food Ethics 1/2019, S. 41–52; dies., Do Consumers Prefer Pasture-Raised Dual-Purpose Cattle Considering Everyday Meat Products. A Hypothetical Discrete Choice Experiment for the Case of Minced Beef, in: Meat Science 177/2021, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.meatsci.2021.108494.

  18. Vgl. Friederike Albersmeier/Holger Schulze/Achim Spiller, System Dynamics in Food Quality Certifications: Development of an Audit Integrity System, in: International Journal on Food System Dynamics 1/2010, S. 69–81.

  19. Vgl. Susanne Hartlieb/Bryn Jones, Humanising Business Through Ethical Labelling: Progress and Paradoxes in the UK, in: Journal of Business Ethics 3/2009, S. 583–600.

  20. Vgl. Eleni Mente et al., Nutrition in Organic Aquaculture: An Inquiry and a Discourse, in: Aquaculture Nutrition 4/2011, S. 798–817.

  21. Vgl. Sally Eden/Christopher Bear/Gordon Walker, Understanding and (Dis-)Trusting Food Assurance Schemes: Consumer Confidence and the "Knowledge Fix", in: Journal of Rural Studies 1/2008, S. 1–14.

  22. Vgl. Zander et al. (Anm. 12).

  23. Vgl. Andreas C. Drichoutis, Nutrition Knowledge and Consumer Use of Nutritional Food Labels, in: European Review of Agriculture Economics 1/2005, S. 93–118; Petrovici et al. (Anm. 14).

  24. Vgl. Grunert/Hieke/Wills (Anm. 11).

  25. Vgl. Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach?, in: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?, Bonn 2016, S. 19–27.

  26. Vgl. Jeanette Klink et al., Sustainability as Sales Argument in the Fruit Juice Industry: An Analysis of On-Product Communication, in: Journal on Food System Dynamics 3/2014, S. 144–158.

  27. Vgl. Minna Autio et al., Consuming Nostalgia? The Appreciation of Authenticity in Local Food Production, in: International Journal of Consumer Studies 5/2013, S. 564–568; Maria D. Ehmke/Jayson L. Lusk/Wallace Tyner, Measuring the Relative Importance of Preferences for Country of Origin in China, France, Niger, and the United States, in: Agricultural Economics 3/2008, S. 277–285.

  28. Vgl. Rosa Schleenbecker/Ulrich Hamm, Information Needs for a Purchase of Fairtrade Coffee, in: Sustainability 5/2015, S. 5944–5962.

  29. Vgl. Fredrik Fernqvist/Lena Ekelund, Credence and the Effect on Consumer Liking of Food – A Review, in: Food Quality and Preference 32/2014, S. 340–353; Carl Johan Lagerkvist/Fredrik Carlsson/Diana Viske, Swedish Consumer Preferences for Animal Welfare and Biotech: A Choice Experiment, in: AgBioForum 1/2006, S. 51–58.

  30. Vgl. BMEL (Anm. 16).

  31. Vgl. Mary Story et al., Creating Healthy Food and Eating Environments: Policy and Environmental Approaches, in: Annual Review of Public Health 2008, S. 253–272.

  32. Vgl. Mattea Dallacker/Jutta Mata/Ralph Hertwig, Toward Simple Eating Rules for the Land of Plenty, in: Ralph Hertwig/Timothy J. Pleskac/Thorsten Pachur (Hrsg.), Taming Uncertainty, Cambridge, MA 2019, S. 111–127.

  33. Vgl. Paul Ingenbleek/Victor Immink, Consumer Decision-Making for Animal-Friendly Products: Synthesis and Implications, in: Animal Welfare 1/2011, S. 11–19.

  34. Vgl. Roy M. Dilley, Reflections on Knowledge Practices and the Problem of Ignorance, in: Journal of the Royal Anthropological Institute, Special Issue, May 2010, S. 176–192.

  35. Vgl. Shankar Ganesan/Ron Hess, Dimensions and Levels of Trust: Implications for Commitment to a Relationship, in: Marketing Letters 4/1997, S. 439–448; Anna L. Macready et al., Consumer Trust in the Food Value Chain and Its Impact on Consumer Confidence: A Model for Assessing Consumer Trust and Evidence from a 5-Country Study in Europe, in: Food Policy 92/2020, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.foodpol.2020.101880; Lucie Sirieix/Paul R. Kledal/Tursinbek Sulitang, Organic Food Consumers’ Trade-Offs Between Local or Imported, Conventional or Organic Products: A Qualitative Study in Shanghai, in: International Journal of Consumer Studies 6/2011, S. 670–678; Linn V. Zaglauer et al., Consumer Trust in Food Retailers: Conceptual Framework and Empirical Evidence, in: International Journal of Retail & Distribution Management 4/2012, S. 254–272.

  36. Vgl. Daniel Kahneman/Amos Tversky, Choices, Values, and Frames, in: American Psychologist 4/1984, S. 341–350.

  37. Vgl. Paul Rozin/Edward B. Royzman, Negativity Bias, Negativity Dominance, and Contagion. Personality and Social Psychology Review 4/2001, S. 296–320.

  38. Vgl. Apasia Werner/Antje Risius, Motives, Mentalities and Dietary Change: An Exploration of the Factors That Drive and Sustain Alternative Dietary Lifestyles, in: Appetite 165/2021, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.appet.2021.105425.

  39. Vgl. Louise O. Fresco et al., Sustainable Food Systems: Do Agricultural Economists Have a Role?, in: European Review of Agricultural Economics 4/2021, S. 694–718.

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ist Juniorprofessorin für Ernährung, Gesundheit und Nachhaltigkeit an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch-Gmünd.
antje.risius@ph-gmuend.de