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Einführung in das Welternährungssystem | Welternährung | bpb.de

Welternährung Editorial Einführung in das Welternährungssystem Kleine Geschichte des internationalen Kampfes gegen den Hunger Eine Welt ohne Hunger bis 2030? Stand und Perspektiven für das Sustainable Development Goal 2 Adipositas – eine globale Ernährungskrise? Gesundes Essen messen. Proteine, Kalorien und die Geschichte des Diskurses um gesunde Ernährung Von Wissen, Vertrauen und Ernährungsumwelten. Gesellschaft und Bildung für nachhaltige Ernährung

Einführung in das Welternährungssystem

Michael Brüntrup

/ 18 Minuten zu lesen

Das Welternährungssystem umfasst die Bereitstellung von Produktionsmitteln, die eigentliche Produktion von Nahrung sowie ihre Verarbeitung, Nutzung und Wiederverwendung. Derzeit wird es seinen grundlegenden Funktionen und Herausforderungen nicht ausreichend gerecht.

Das globale Agrar- und Ernährungssystem ist vielschichtig und komplex. Eine Betrachtung beginnt am besten mit der Beschreibung seiner grundlegenden Funktionen, von der Bereitstellung von Produktionsmitteln über die eigentliche Produktion von Nahrungsmitteln bis hin zu ihrer Verarbeitung, Nutzung und teilweisen Wiederverwendung. In der Subsistenzwirtschaft, die ursprünglich überall auf der Welt die Basis der Ernährung darstellte, waren diese Funktionen weitgehend in ländlichen Betrieb-Haushalt-Systemen vereint, die oft mit erweiterten Familienstrukturen übereinstimmten. Im Zuge von wirtschaftlicher Entwicklung, Urbanisierung und Produktivitätsfortschritten in der Landwirtschaft entwickelte sich zunehmend eine Arbeitsteilung, und diese kurzgeschlossenen Systeme splitterten sich auf: Heute werden Betriebsmittel und Kapitalgüter wie Saatgut, Dünger und Maschinen überwiegend in der Agrarproduktion vorgelagerten Bereichen hergestellt, Landwirt*innen setzen sie anschließend bei ihrer Arbeit ein, und die von ihnen gewonnenen Nahrungsmittel werden wiederum weitgehend betriebsfern verarbeitet, gehandelt und an die Konsument*innen gebracht. Das Recycling der Nährstoffe ist in dieser arbeitsteiligen Wirtschaftsform schwieriger, allein weil Produzent*innen und Konsument*innen räumlich getrennt sind. Der Übergang von der Subsistenz- zur arbeitsteiligen Nahrungsmittelproduktion dauerte lange und fand nicht überall gleichzeitig statt. Gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern bestehen beide Modelle auch heute noch häufig neben- und miteinander, und Subsistenzproduktion ist in vielen armen ländlichen Regionen immer noch die wichtigste Säule der Ernährung.

Die modernen Ernährungssysteme bleiben nicht nur in wirtschaftliche Systemzusammenhänge eingebettet, sondern auch in soziale und ökologische. Größere Teile der Agrarlieferketten sind in ländlichen Regionen angesiedelt und bilden dort über lange Zeitabschnitte hinweg das Rückgrat der Entwicklung. Denn die mit ihnen verknüpften Arbeitsplätze in den vor- und nachgelagerten Bereichen der Produktion erhöhen die Nachfrage nach lokalen Gütern und Dienstleistungen und beleben so die ländliche Wirtschaft. Ausnahmen sind intensive Viehhaltung oder transportsensible Sonderkulturen wie der Gemüsebau, die relativ flächenunabhängig sind und sich im Umland von oder sogar in den Städten ansiedeln können.

Auch die weiteren wirtschaftlichen Verflechtungen des Ernährungssektors sind mannigfaltig, zumal die Landwirtschaft nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Rohstoffe herstellt. Vor der Entdeckung von fossilen Rohstoffen, insbesondere Rohöl, lieferte die Landwirtschaft, insbesondere, wenn man Forstwirtschaft und Fischerei hinzuzählt, einen großen Teil der Rohstoffe für die Gewinnung von Energie, Baustoffen, Fasern, Farben und Heilmitteln. Sollen künftig fossile Rohstoffe nicht nur bei der Energie-, sondern auch bei der materiellen Nutzung zurückgedrängt werden, wird dies wieder vermehrt Aufgabe der Agrarwirtschaft werden.

Landwirtschaft war und bleibt zudem eingebettet in Ökosysteme, die sie meist grundlegend in Agrar-Ökosysteme gewandelt hat. Sie ist die wichtigste Nutzerin natürlicher Ressourcen, insbesondere von Land, Boden und Wasser. Der Sektor ist damit an vielen ökologischen Gefährdungen beteiligt beziehungsweise deren Hauptverursacher.

Kornkammern und Handelsströme

Durch die Reduktion von Transportkosten, die Entdeckung von neuen Konservierungsmethoden, bessere Informationssysteme und günstige Finanzierung ist im Zuge der Entwicklung hin zu arbeitsteiligen Agrar- und Ernährungssystemen eine zunehmende räumliche Entkoppelung von Produktion und Konsum möglich geworden. Städte und landknappe Länder wie Singapur ernähren sich weitgehend von Lebensmitteln, die außerhalb ihrer Grenzen produziert werden. Auch die bevölkerungsreichen Länder in Nahost und Nordafrika sind weitgehend auf Nahrungsimporte angewiesen, dort ist der limitierende Faktor meist Wasser. Die Tragfähigkeit einer Landschaft für eine bestimmte Menschenzahl und -dichte hat wesentlich an Bedeutung verloren, zugunsten einer globalen Perspektive, in der nun die planetaren Grenzen die ökologische Tragfähigkeit der Menschheit definieren. Dabei spielt die Agrar- und Ernährungswirtschaft eine Schlüsselrolle: Etwa 24 Prozent der planetaren Biomasse werden vom Menschen genutzt.

Im Rahmen der zunehmend globalen Arbeitsteilung für Produktion und Konsum von Nahrungsmitteln haben sich globale "Kornkammern" entwickelt. Allerdings sind nicht überall Getreide die wichtigsten Grundnahrungsmittel, teilweise sind es auch Knollen (Kartoffeln, Yams), Wurzeln (Maniok, Taro) oder Stauden (Bananen). Und neben Kalorien brauchen wir auch andere Nahrungsmittel für eine gesunde Ernährung, insbesondere Proteine, Fette sowie organische und mineralische Mikronährstoffe. Dennoch hat der Begriff seine Berechtigung: Nur drei Arten liefern über 40 Prozent der global genutzten Kalorien und, trotz ihres eher geringen Gehaltes, aufgrund der großen Masse ebenfalls einen sehr bedeutenden Teil der Proteine: Reis, Weizen und Mais. Der Begriff "Kornkammer" soll hier für Überschussregionen verwendet werden, die mit ihren Agrarexporten den Konsum in anderen Weltregionen unterstützen. Bezogen auf die absolute Produktion sind jedoch ganz andere Regionen die "Kornkammern" der Welt, nämlich diejenigen, in denen die meisten Menschen leben und die sich (noch) weitgehend selbst ernähren können: China und Indien.

Die meisten der großen Agrar-Import- und -Exportländer sind gleichermaßen Importeure wie Exporteure (Abbildung 1). Hohe Exportüberschüsse haben die geografisch großen USA und die kleinen Niederlande. Im Fall der USA ist vor allem die Primärproduktion entscheidend, in den Niederlanden ist es die Veredelungswirtschaft, die auf dem Import von Rohstoffen basiert sowie auf Nahrungsprodukten mit höherem Mehrwert durch Viehwirtschaft oder Verarbeitung.

Bezogen auf den gesamten Agrarsektor hat der Begriff der "Kornkammer" nicht nur mit den natürlichen Kapazitäten Land, Boden, Wasser und Klima zu tun. Diese sind wichtig für die Massenware, insbesondere für die primären Kalorien aus der Pflanzenproduktion. Aber selbst hier ist es oft nicht die Knappheit an Land und Wasser, die die landwirtschaftliche Produktion limitiert, sondern die Knappheit an Arbeitsleistung. Historisch gesehen hatten einige der Regionen, die heute – wie etwa Australien oder Nordamerika – zu den zentralen Exporteuren von landwirtschaftlichen Massengütern zählen, eine sehr niedrige Tragfähigkeit. Erst mit der Einführung von technischen Innovationen, insbesondere der Mechanisierung der Landbewirtschaftung und des Transports, wurde die Produktion und damit die Tragfähigkeit und letztlich die Exportleistung drastisch erhöht.

Für eine Reihe von Agrarprodukten sind darüber hinaus noch einige weitere Faktoren bestimmend für ihren Platz im Weltagrarsystem: historisch gewachsene Produktionsschwerpunkte und Handelsverbindungen, komparative Vorteile gegenüber Wettbewerbern, Infrastruktur. Wissen spielt in der modernen Agrarproduktion eine große Rolle, aber auch die ökonomischen Rahmenbedingungen für Investitionen entlang der Produktionsketten. Und nicht zuletzt sind auch politische Beziehungen und die Geopolitik zentrale Faktoren. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Entwicklung der Handelsbeziehungen im Agrarbereich in den vergangenen Jahrzehnten, die eine erstaunliche Dynamik an den Tag legt (Abbildung 2): Nachdem infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion aus einem ungleichen tripolaren in den 1990er Jahren ein weitgehend bipolares System mit den Clustern Nordamerika-Asien und Europa-Afrika entstanden war, entwickelten sich im Laufe der Zeit neue Cluster hin zu einem multipolaren System. Bis 2008 vertieften Russland und die Ukraine gemeinsam mit den zentralasiatischen Staaten sowie China, Australien, Südamerika und großen Teilen Afrikas ihre Handelsbeziehungen und drängten die Dominanz Europas und Nordamerikas teilweise zurück. Bis 2018 intensivierten sich die Handelsbeziehungen zwischen Südamerika und Asien, insbesondere zwischen Brasilien und China, und Russland und die Ukraine wurden für Afrika wichtiger. Es entstand ein weiterer kleiner Pol im südlichen Afrika.

Weltweit wurden 2021 etwa 16 Prozent der für die Welternährung im Sinne der Kalorien- und Protein-Grundversorgung besonders wichtigen Getreideproduktion international gehandelt, wobei die Spanne von 10 Prozent bei Reis bis 24 Prozent bei Weizen reicht. Dabei weisen die Netto-Getreideüberschüsse und -defizite ein klares regionales Muster auf, mit Variationen je nach Getreideart. Die USA und Europa bleiben die großen Netto-Exporteure, Afrika und Asien die großen Netto-Importeure. Die OECD und die UN Food and Agriculture Organization (FAO) schätzen allerdings, dass sich der Großteil des exportierbaren Reisüberschusses weiterhin auf die asiatischen Länder konzentrieren wird, während in Lateinamerika und der Karibik die Maisausfuhren weitgehend durch Weizeneinfuhren ausgeglichen werden. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass mehrere afrikanische und asiatische Länder im kommenden Jahrzehnt stärker von Getreideeinfuhren abhängig sein werden.

Preise und Preisbildung

Neben der Verfügbarkeit durch Produktion und Handel ist der Zugang zu Nahrung sowie ihre Nutzung die entscheidende Größe für Ernährungssicherheit. Dafür spielt das Einkommen im Zusammenspiel mit den Preisen für Nahrungsmittel eine zentrale Rolle. Sehr drastisch zeigen dies die Ergebnisse von Haushaltsbefragungen in mehr als 140 Ländern, die die FAO jedes Jahr in Auftrag gibt, um die erlebte Ernährungsunsicherheit zu erheben. Die Erfahrung von mittlerer und hoher Ernährungsunsicherheit lag 2020 in 26 Niedrigeinkommensländern mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen unter 1100 US-Dollar bei 60 Prozent, während in den 81 Hocheinkommensländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 13000 US-Dollar weniger als 8 Prozent der Haushalte angaben, Ernährungsunsicherheit zu erfahren. Das durchschnittliche Einkommen steht dabei nicht nur für die Kaufkraft des einzelnen Haushalts, sondern auch für die Kapazität des Landes, für seine Einwohner*innen zu sorgen. Je nach lokalen Gegebenheiten – insbesondere dem staatlichen System der sozialen Sicherung, den lokalen Märkten und Nahrungsmittelpreisen inklusive -schwankungen sowie dem Ausgaben- und Nutzungsverhalten der einzelnen Haushalte und Personen – gibt es große Unterschiede bei der Korrelation von Einkommen und Ernährungssicherheit.

Grundsätzlich sind für Ärmere niedrige Nahrungsmittelpreise wünschenswert beziehungsweise sogar überlebenswichtig. Allerdings leben Schätzungen zufolge rund 70 Prozent der extrem Armen im ländlichen Raum und beziehen den größten Teil ihres Einkommens aus der Landwirtschaft. Sie erwirtschaften den größten Teil ihres Einkommens direkt aus dem Verkauf von Agrarprodukten oder verdienen Löhne in den vom Agrarsektor abhängigen Agrarlieferketten und ländlichen Räumen, profitieren also von höheren Agrarpreisen. Bis zur Nahrungsmittelpreiskrise 2007/08 galt als gesetzt, dass höhere Agrarpreise auf dem Weltmarkt den Kleinbauern im Globalen Süden helfen würden, sich aus Armut und Ernährungsunsicherheit zu befreien. Erst in der Hochpreisphase erkannte man, wie wichtig die Verbraucher*innenperspektive und damit niedrige Nahrungsmittelpreise auch für Bewohner*innen ländlicher Räume sind. Die gegensätzliche Wirkung von Agrarpreisen auf Produzent*innen und Verbraucher*innen schafft ein Dilemma. Letztlich kommt es auf die Konstellation der Preise für verschiedene Produkte am jeweiligen Standort an, welche Wirkung überwiegt.

Zur Beschreibung der Preisbildung auf den Agrarmärkten muss zwischen verschiedenen Ebenen unterschieden werden, insbesondere zwischen der nationalen und der internationalen. Natürliche Faktoren, fehlende Technologie, Infrastruktur, Informationen, Finanzkraft, aber auch lokale Monopole, private Preisabsprachen oder lokalpolitische Preis- und Handelsrestriktionen machen lokale Märkte schwankungsanfällig. Vom Weltmarkt schwappen Preisschwankungen in die lokalen Märkte, können sie destabilisieren und je nach Tendenz Produzent*innen oder Konsument*innen schaden. Da Nahrungsmittelpreise von so hoher sozialer und politischer Bedeutung sind, überlassen nur wenige Länder den Agrar- und Ernährungssektor ganz dem Spiel von Angebot und Nachfrage. Sie nutzen Importzölle, Abgaben und mengenmäßige Begrenzungen, um Importe zu erschweren, sowie Exportbeschränkungen, um die nationale Versorgung und Sicherheit bei niedriger Eigenproduktion oder zu hohem Abfluss ins Ausland zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren gab es auch häufig Handels- und Preisregulierungen bei Düngemitteln – seit 2003 wurden, angefangen mit Malawi, in vielen afrikanischen Ländern Subventionen eingeführt, um die Nahrungsmittelproduktion anzureizen, während einige Länder insbesondere nach der Corona-Krise ihre Exporte eingeschränkt haben, darunter auch immer wieder Russland.

Trotz seiner Größe und Vielfalt ist der Weltagrarmarkt nicht vor starken Störungen gefeit. Durch die Dominanz einiger weniger großer Akteure auf einzelnen Märkten kann es zu starken Veränderungen von Knappheiten kommen, sowohl aufgrund natürlicher Schwankungen wie beim Klima oder einem Ausbruch von Krankheiten als auch durch politische Interventionen. Dass diese Faktoren oft zusammenspielen, zeigte die Krise 2007/08 deutlich: Aufgrund geringer Produktionsanreize durch historisch niedrige Weltmarktpreise und nach einer Reihe von schlechten Ernten waren die globalen Lagerbestände gefährlich geschrumpft. Die Energiepreise stiegen. Niedrige Zinsen und Risiken bei vielen Anlagearten am Vorabend der globalen Wirtschaftskrise machten den Agrarsektor zu einer attraktiven Anlagealternative. Als in einigen reichen Ländern auch noch massive Bioenergie-Programme starteten, wurden große Mengen insbesondere von Mais und Pflanzenölen aus dem Markt genommen, und es entstand eine Erwartung höherer Preise. Börsen- und Warenspekulant*innen verstärkten die Preisblase durch Horten und Preiswetten. Viele Regierungen griffen zu Exportrestriktionen oder ebenfalls zu Hamsterkäufen, um die Versorgung zu sichern. Eine weitere Verknappung auf den Weltmärkten und noch höhere Preiserwartungen folgten: Die Weltmarktpreise vieler Produkte verdoppelten bis vervierfachten sich in kurzer Zeit (Abbildung 3). Dieser Welle folgte 2011/12 eine zweite. Sie führte weltweit zu einer Rückbesinnung auf die Bedeutung des Agrarsektors und zu Versuchen, die Preis- und Spekulationsblasen zu dämpfen, etwa durch die Begrenzung des Ausbaus der Bioenergie, durch Grenzen für bestimmte spekulative Geschäfte an Agrarbörsen und bessere Marktbeobachtung.

Auch die aktuelle Nahrungsmittelkrise hat vielfältige Gründe: Durch die Corona-Pandemie wurden viele Lieferketten gestört. Als sich die Weltkonjunktur relativ rasch wiederbelebte, kam es zur Überhitzung. Internationale Frachtraten, Energie- und Düngerpreise schossen in die Höhe und verteuerten auch die Agrarpreise. Durch den Krieg in der Ukraine wurden dem Weltmarkt in kürzester Zeit viele Millionen Tonnen Agrarprodukte vorenthalten, insbesondere Weizen und Sonnenblumen. Es kam weltweit zu Hamsterkäufen. Die europäischen Staaten kauften den Gasmarkt leer, um russische Lieferungen zu ersetzen. In der Folge stiegen die Energie- und Düngerpreise nochmals heftig an, und wieder kam es zu vielfältigen Exportbeschränkungen. Modellrechnungen zeigen, dass allein die Düngerpreiserhöhungen und die Exportrestriktionen zwischen 2021 und 2023 einen Anstieg der Weltagrarpreise um 60 bis 100 Prozent erklären können, was bei 61 bis 107 Millionen Menschen zu Unterernährung führen und bis zu einer Million zusätzlicher Tode verursachen würde.

Diskutiert wird, inwieweit die Ausnutzung der Mangellage durch den Agrar- und Lebensmittelhandel für Preiserhöhungen jenseits der realen Kostenexplosion mit verantwortlich ist. Entsprechende Vermutungen ergeben sich aus der starken Konzentration sowohl des internationalen Agrarmarktes auf vier westliche Handelskonzerne (Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill, Louis Dreyfus), neuerdings um asiatische Konkurrenten erweitert (Wilmar, Cofco), als auch des Einzelhandels in vielen Ländern. Tatsächlich gibt es Indizien für spekulative Übertreibungen, etwa hohe Gewinne und überteuerte Produkte, sowie gegenseitige Vorwürfe von Lieferkettenakteuren. Allerdings gibt es wenige belastbare Belege, dass die Gewinne einen größeren Anteil an den Preisanstiegen haben – die realwirtschaftlichen Preistreiber sind so stark und auf allen Agrarmärkten zu beobachten, dass die Bedeutung von Marktmacht in diesem Falle eher zweitrangig sein dürfte.

Internationale Governance

Der globale Agrar- und Ernährungssektor wird von einer Reihe internationaler Ordnungsrahmen und Organisationen reguliert. Die zentrale Organisation ist die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO. Sie ist ein Wissenspool für alle Themen, die den Sektor betreffen, erhebt Statistiken, berät ihre Mitgliedstaaten, führt zu diesem Zweck Pilotprojekte durch und hat ein renommiertes Investment-Center für die Planung großer Agrarvorhaben. Gemeinsam mit der Welthandelsorganisation WHO beschließt die FAO Lebensmittelstandards, die im "Codex Alimentarius" gesammelt werden. Unter dem Dach der FAO gibt es weitere Fachgremien und Regelwerke für die Sicherung des Welternährungssystems, etwa die Internationale Pflanzenschutz-Konvention, die Weltorganisation für Tiergesundheit und das Abkommen über pflanzengenetische Ressourcen für Nahrung und Landwirtschaft. Der Welternährungsausschuss wurde 1974 als zwischenstaatliches Gremium und Steuerungsgremium der FAO eingerichtet und nach der großen Agrarpreis- und Ernährungskrise 2009 zum Multi-Stakeholder-Komitee reformiert, das ernährungsrelevante Themen orchestrieren soll. Er gilt in seiner neuen Struktur, in der neben Staaten auch die Privatwirtschaft und die Zivilgesellschaft sowie andere Akteure wie Bauernorganisationen oder Vertreter*innen der Wissenschaft gleichberechtigt an den Debatten teilnehmen können, als eine der inklusivsten internationalen Organisationen. Seine Kompetenzen sind im Vergleich jedoch sehr gering.

Für den Weltagrarhandel ist die Welthandelsorganisation WTO, die erst 1994 als Nachfolgerin des General Agreements on Tariffs and Trade (GATT) gegründet wurde, die zentrale Stelle. Anders als im GATT ist der Agrarhandel nun reguliert: Im Rahmen eines eigenen Agrarabkommens werden insbesondere der Abbau von Zöllen und Abgaben sowie die Regeln für Agrarsubventionen verhandelt und festgelegt. Außerdem existiert innerhalb der WTO ein Abkommen über sanitäre und phytosanitäre Standards, das sich am "Codex Alimentarius" orientiert. Auch in anderen WTO-Abkommen werden Agraraspekte geregelt. Als einzige internationale Organisation kann die WTO bei Regelverstößen Sanktionen in Form von Strafzöllen verhängen. Allerdings ist die WTO insbesondere unter Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker*innen hoch umstritten, da sie sich an einem Leitbild der fortschreitenden Liberalisierung der Weltmärkte orientiert. Ausnahmen für staatliche Sicherheits-, Sozial- und Umweltstandards sind im Einzelfall erlaubt, jedoch nur mit Vorbehalten und solange keine Diskriminierung und eine explizite Begründung vorliegt. Für Entwicklungsländer sind die Liberalisierungsbedingungen meist weniger streng, und für die am wenigsten entwickelten Länder gelten weitere Ausnahmen. Dennoch können die nationalen Freiräume für Agrar- und Ernährungspolitiken auch von Entwicklungsländern beschnitten werden.

Für die spezielle Förderung der Landwirtschaft und vieler einzelner Aspekte der Ernährungssicherung existieren weitere internationale Organisationen: Die Consultative Group of International Agricultural Research ist ein Netzwerk von internationalen Agrarforschungsorganisationen, die sich speziell mit den Agrar- und Ressourcenmanagement-Problemen von Entwicklungsländern beschäftigen. Die internationalen Entwicklungsbanken, also die Weltbank, die kontinentalen Regionalbanken und weitere bilaterale Entwicklungsbanken, sind wichtige Geldgeber. Sie nutzen Geberbeiträge und deren Garantien und haben damit auch Zugang zu günstigen kommerziellen Krediten, deren Konditionen sie weitergeben. Der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung der Vereinten Nationen wurde Ende der 1970er Jahre nach der Ölpreiskrise zur Abfederung der daraus folgenden Ernährungskrise gegründet. Neben der Unterstützung der Landwirtschaft sind auch andere Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsprogramme dieser Banken von großer Bedeutung für die Ernährungssicherheit. Eine besondere Relevanz für die Stabilisierung der Gesamtwirtschaft kommt darüber hinaus dem Internationalen Währungsfonds zu. Er vergibt Kredite bei staatlichen Zahlungsproblemen und hat ein "Fenster für Nahrungsmittelschocks im Rahmen der Soforthilfeinstrumente" eingerichtet. Wichtig für die Ernährungssicherung insbesondere nach Katastrophen ist das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.

Dadurch, dass große Kredite oft an Konditionen geknüpft sind, haben insbesondere die Weltbank und der IWF indirekt großen Einfluss auf die nationale Governance auch der Agrar- und Ernährungssysteme. Berüchtigt waren die Strukturanpassungsprogramme der 1980er und 1990er Jahre, die viele Länder zum Abbau von Stützungsprogrammen gerade im Agrarbereich zwangen, es allerdings oft auch erlaubten, die Preise für Agrarprodukte zugunsten der Landwirt*innen anzuheben. Frühere Bestrebungen zur globalen Regulierung einiger landwirtschaftlicher Rohstoffe wie Kaffee oder Kautschuk mit dem Ziel der Preis- und Einkommensstabilisierung haben sich hingegen nicht bewährt oder konnten nicht durchgesetzt werden.

Für gewisse Umweltaspekte der Landwirtschaft sind auch Regelungen der großen Umweltkonventionen von zunehmender Bedeutung, insbesondere jene der Klima-Rahmenkonvention der Vereinten Nationen mit ihren Unterabkommen für Klimawandel-Begrenzung und -Anpassung auch im Agrarsektor, die UN-Biodiversitätskonvention mit ihren Regeln für den Schutz von Ökosystemen, die auch die landwirtschaftliche Nutzung einschränken können, und die UN-Wüstenkonvention, die sich dem Bodenschutz und dem Risikomanagement gegen Dürren widmet.

Herausforderungen

Das Welternährungssystem wird derzeit seinen grundlegenden Funktionen und Herausforderungen nicht ausreichend gerecht. Zwar kam es in den vergangenen 200 Jahren zu einer enormen Produktionssteigerung, die das bisherige Wachstum der Weltbevölkerung und deren Ernährung erst möglich gemacht hat. Dabei ist ein Teil der Weltbevölkerung allerdings außen vor geblieben, und enorme Nachhaltigkeitsprobleme sind entstanden: Die 9,8 Prozent der Weltbevölkerung, die als ernährungsunsicher gelten, entsprechen fast 770 Millionen Menschen. Aufgrund der hohen Preise werden für 2022 nochmals deutlich mehr befürchtet. Mehr als zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu ausreichender, mehr als drei Milliarden zu gesunder Ernährung. Etwa drei Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben jedes Jahr an den Folgen von Mangelernährung. Hingegen sind gleichzeitig fast zwei Milliarden Menschen gefährlich übergewichtig oder fettleibig.

Außerdem hat der Sektor einen enormen ökologischen Fußabdruck: So steht er für etwa 70 Prozent der globalen Wassernutzung, die Düngung mit den wichtigen Pflanzennährstoffen Stickstoff und Phosphat gefährdet die Wasserqualität und das Leben im Wasser, die Ausdehnung in der Fläche – insbesondere der intensiven, einförmigen und großflächigen Acker- und Viehhaltung – gefährdet die Biodiversität. Außerdem wird der Sektor für bis zu 30 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich gemacht, die wesentlichen Treiber sind Methan aus dem Bewässerungs-Reisanbau und der Haltung von Wiederkäuern, insbesondere Rindern. In der negativen Bilanz enthalten sind auch Kohlenstoffverluste aus Entwaldung und aus dem Verlust an organischer Substanz im Boden. Eine zukünftige globale Ernährungsstrategie wird diese planetaren Gesundheitsaspekte berücksichtigen müssen.

Ob sich das globale Ernährungssystem angesichts der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine neu ausrichten wird, bleibt abzuwarten. Die Pandemie hat zwar die Verletzlichkeit des internationalen (Agrar-)Handelssystems aufgezeigt, während sich die lokalen Agrarsysteme als sehr robust und resilient gezeigt haben. Auch der Krieg in der Ukraine hat für einige der stark von Nahrungsmittelimporten abhängigen Länder wie Ägypten oder den Libanon bestätigt, dass die hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt und von einzelnen Ländern ein Risiko darstellt. Weiterhin könnte eine geopolitische Blockbildung den freien Agrarhandel untergraben und ebenfalls eine Umorientierung hin zu eigenen oder regionalen, sicheren Versorgungsquellen nahelegen.

Auf der anderen Seite sind dieser Rückbesinnung auf Eigenversorgung oder "Near- and Friend-Shoring" Grenzen gesetzt. Teilweise reichen die eigenen natürlichen Ressourcen – insbesondere Wasser, aber teils auch Land – kaum noch aus für die vollständige Eigenversorgung. Darüber hinaus wäre eine starke Hinwendung zu diesen Quellen teilweise mit enormen Kosten für die Ertüchtigung der lokalen Landwirtschaft verbunden. In dichter besiedelten und wenig produktiven Ländern wäre auch der Biodiversitätsschutz eventuell gefährdet. Schließlich gibt es eine Reihe von eher lokalen Risiken insbesondere durch naturbedingte Katastrophen wie Dürren oder Pflanzen- und Tier-Krankheiten, die eine Selbstversorgungsstrategie riskant machen und gegen eine räumliche Verengung der Versorgung sprechen. Der internationale Agrarhandel dürfte also ein wichtiges Element der Versorgungsstabilität bleiben.

Die zentrale Herausforderung ist demnach die Gestaltung eines sozial gerechteren, ökologisch nachhaltigeren und gegenüber multiplen Risiken resilienteren Agrar- und Ernährungssystems, und zwar sowohl national als auch international. Dies ist nur über viele Jahre hinweg zu erreichen. Für eine sozial gerechtere Verteilung gesünderer Ernährung bedarf es insbesondere eines ausgeglicheneren Zugangs zu Nahrung. Dafür muss die Einkommensarmut der unteren Einkommensgruppen bekämpft werden, und Nahrungsmittel dürfen nicht teurer werden. Mittelfristig ist der wichtigste Einzelschritt, die Arbeitsproduktivität der Kleinbauern zu erhöhen, die den größten Anteil an einkommensarmen Haushalten ausmachen. Arbeitsplätze und Einkommen außerhalb des Agrarsektors müssen dazukommen, denn längerfristig werden viele Kleinbauern den Sektor aufgeben und ihren Lebensunterhalt anderweitig verdienen müssen, um einen akzeptablen Lebensstandard zu halten. Derzeit bewirtschaften über 500 Millionen Menschen Betriebe unter zwei Hektar, das ist außer im intensiven Gartenbau zu wenig für ein Einkommen, das jenseits der Ernährung auch noch für viele andere Bedarfe reichen muss. Hinzu kommt, dass die Weltbevölkerung nochmals um ein bis zwei Milliarden Menschen wachsen wird, gerade in Afrika. Für den daraus resultierenden Strukturwandel bedarf es angepasster Mechanisierung. Alternativ beziehungsweise parallel zu Einkommensquellen für die Ärmsten müssen soziale Transfersysteme entstehen, die mit den Nahrungsmittelpreisen "atmen".

Um die Nahrungsmittelpreise niedrig zu halten, sind die Reduzierung von Verlusten und Verschwendung in den Nahrungsmittellieferketten sowie bei der Verfütterung von Ackerfrüchten an Tiere Teil der Lösung. Beide Maßnahmen sind auch für die ökologische globale Tragfähigkeit wichtig. Allerdings begünstigt ein sich modernisierender und urbanisierender Lebensstil die Verschwendung von Nahrungsmitteln, und in vielen Ländern steigt der Bedarf an tierischer Nahrung. Der Rückgang des Fleischkonsums in den reichen Industrieländern wird dies nicht ausgleichen. Außerdem braucht es erheblich mehr Agrarprodukte, die Materialien und Energie aus fossilen Stoffen ersetzen können. Daher muss die landwirtschaftliche Produktion und Diversität erhöht werden, möglichst bei paralleler Steigerung der Arbeits- und Flächenproduktivität – Ersteres für die Einkommenssteigerungen, Letzteres, um die landwirtschaftliche Nutzfläche nicht noch weiter anwachsen zu lassen.

Für die ökologische Nachhaltigkeit der Produktion muss es eine Reihe von Verbesserungen geben, die an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind. Während es in den sehr intensiven Anbaugebieten zu einem geringeren Einsatz von Düngemitteln und anderen Betriebsmitteln kommen muss sowie zu einer stärkeren Zergliederung der Landschaft, muss es in vielen Entwicklungsländern insbesondere in Afrika darum gehen, Raubbau zu beenden sowie Düngung und Produktionsintensität zu steigern. Auf längere Sicht muss auch daran gearbeitet werden, nicht nur die innerbetrieblichen Nährstoffkreisläufe zu verbessern, sondern auch die Rückführung von Nährstoffen zu ermöglichen, die in den Agrarprodukten enthalten sind und beim Verkauf die Betriebe und meist auch die Region verlassen – so können etwa Phosphor und Kalium sowie einige Mikronährstoffe oft nicht ausreichend aus dem Boden nachgeliefert werden. Auch dies ist keineswegs trivial, es bestehen zahlreiche gesundheitliche/hygienische, logistische/ökonomische, rechtliche und psychologische Hindernisse.

Für all das sind insbesondere standortangepasste Forschung unter Berücksichtigung von lokalem Wissen, öffentliche und private Investitionen sowie der Aufbau von wettbewerbsfähigen und daher meist privatwirtschaftlichen Lieferketten nötig. Der Informationssektor bietet große Chancen für Verbesserungen entlang der gesamten Agrarketten. So kann er dazu beitragen, dass Kleinbauern einfacher und günstiger Kredite oder Versicherungen erhalten, Krankheiten und Schädlinge leichter identifizieren und bekämpfen oder sich gute Vermarktungsmöglichkeiten erschließen können.

Die Governance des globalen Agrarsektors ist zersplittert und wird es realistischerweise bleiben. Eine bessere Governance muss über mehr Kooperation der bestehenden Organisationen führen. Die zeichnet sich auch allmählich ab. Immer mehr Organisationen geben gemeinsame Flaggschiff-Berichte, Analysen und Stellungnahmen heraus. Die gegenseitige Koordination von Rollen und Aufgaben kann verbessert werden, etwa durch die stärkere Verschmelzung von wirtschaftlichen und ökologischen Zielen in der WTO oder durch die Berücksichtigung von sozialen Aspekten in den Umweltkonventionen. Die Finanzierung ist ein Hauptinstrument für die Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme: Anschubfinanzierung und öffentliche Infrastruktur müssen vom öffentlichen Sektor kommen, aber den Großteil der Investitionen entlang der Liefer- oder besser Wertschöpfungsketten muss der Privatsektor stemmen. Dafür ist nicht zuletzt eine Governance notwendig, die die Interessen der vielen Beteiligten auszugleichen vermag. Frauen spielen in den meisten Aspekten der Agrar- und Ernährungssysteme eine überragende Rolle und müssen sowohl aus sozialen als auch aus Effektivitäts- und Effizienzgründen besonders gefördert werden und mitbestimmen. Das Menschenrecht auf Nahrung muss Leitlinie sein, im Konzert mit der Wahrung ökologischer Leitplanken.

ist Agrarökonom und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn.
michael.bruentrup@idos-research.de