Reformbedarf
Die neue Regierung nahm eine kritische Bestandsaufnahme zur Situation des NHS vor. Sie stellte vor allem folgende Mängel fest:
Die Versorgung sei zu stark fragmentiert. Die Fragmentierung betreffe sowohl die Sektoren des NHS als auch die Kooperation zwischen dem NHS und den Einrichtungen der Sozialfürsorge.
Die NHS-Organisationen (Primary Care Trusts, NHS Trusts) übernehmen zu wenig Verantwortung für die Qualität der Versorgung und orientierten sich zu wenig an den Bedürfnissen der Patienten.
Die Ausgaben des NHS waren in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Die Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf die öffentlichen Haushalte verstärkten den Druck zum Handeln. Die Regierung verwies darauf, dass die steigenden Kosten, insbesondere in Folge des demographischen Wandels und des medizinischen Fortschritts,
Es gibt auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erhebliche Mängel in der Versorgungsqualität. Insbesondere treten erhebliche regionale Unterschiede auftreten ("postcode prescribing") und haben Patienten nur einen mangelhaften Zugang zu bestimmten, zum Teil sogar lebenswichtigen Leistungen.
Insgesamt weist der NHS, so die Regierung, zahlreiche Effizienzmängel auf und gibt es ein Übermaß an Bürokratie.
Diese Defizite werden auch in der Wissenschaft sehr häufig konstatiert (z.B. Gregory et al. 2012; Gridley et al. 2012).
Die Regierung legte wenige Monate nach ihrem Regierungsantritt in einem White Paper eine Problemanalyse und ein darauf gerichtetes Handlungsprogramm vor (Department of Health 2010). Sie bekannte sich zu den Prinzipien des NHS, kündigte aber zugleich weit reichende Veränderungen an, in deren Zentrum eine Dezentralisierung von Entscheidungen und Kompetenzen stehen sollte. Der NHS solle insgesamt eine größere Unabhängigkeit von der Regierung erhalten. Es solle weniger zentrale Zielvorgaben ("targets") zur Leistungssteuerung geben. Die lokale Handlungsebene solle gestärkt werden, die Leistungserbringer sollten größere Handlungsspielräume und die Patienten mehr Wahlmöglichkeiten, vor allem in der primärärztlichen und fachärztlichen Versorgung, erhalten. Das Gesundheitsministerium solle sich auf die Wahrnehmung von Aufgaben für die Sicherung der öffentlichen Gesundheit (Public Health) konzentrieren. Mit mehr Wettbewerb wolle man die Qualität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung verbessern.
Im Reformprozess unterlag das Handlungsprogramm zahlreichen Änderungen. Schließlich wurde die Reform als "Health and Social Care Act" im Frühjahr 2012 vom Parlament verabschiedet und durch die Unterschrift der Königin in Kraft gesetzt.
Der Health and Social care Act 2012
Der Health and Social Care Act sieht sehr weit reichende Veränderungen an der bisherigen NHS-Struktur vor. Sie betreffen insbesondere die organisatorische Struktur des NHS und die Rolle der General Practitioners, aber auch die Beziehungen zwischen dem NHS und den Leistungserbringern und den Patienten (z.B. Roland/Rosen 2013).
Dezentralisierung: Neue Organisationsstruktur des NHS
Im Zentrum stehen folgende Maßnahmen:
Die Strategic Health Authorities (SHAs), also die bisher auf einer mittleren Ebene für die regionale Gesundheitsplanung bzw. -versorgung zuständigen Einrichtungen werden abgeschafft. Diese mittlere Planungsebene wird mit der Reform vollständig beseitigt.
Ebenso werden die Primary Care Trusts (PCTs) de facto abgeschafft (s.u.). Dies sind diejenigen organisatorischen Einheiten, die vor Ort bisher für die Sicherstellung der medizinischen Versorgung zuständig waren und zu diesem Zweck Verträge mit den Leistungserbringern abschlossen.
An die Stelle der PCTs treten nun mehrere hundert "Clinical Commissioning Groups" (CCGs). Diese CCGs können von Krankenhäusern, General Practitioners oder auch von privaten Einrichtungen gebildet werden. Von der Bildung der CCGs erhofft man sich erhebliche Einsparungen. Die PCTs werden zu Commissioning Support Units zurückgestuft, die die CCGs bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützen sollen.
Clinical Commissioning Groups
Die Clinical Commissioning Groups sind für die Sicherstellung der Versorgung zuständig. Unter "Commissioning" versteht man die Ermittlung des Versorgungsbedarfs der Bevölkerung sowie den Prozess der Ressourcenverteilung, die diesem Bedarf gerecht zu werden hat (Mannion 2011). Zu diesem Zweck erbringen sie selbst ärztliche Leistungen und schließen Versorgungsverträge mit Leistungsanbietern. Sie sind also sowohl Finanzierungsträger als auch Leistungserbringer. Der purchaser-provider-split ist insofern aufgehoben (Boyle 2011).
Im Unterschied zu den Primary Care Trusts können die CCGs in einen Wettbewerb um Patienten treten. Die bisherige NHS-Struktur sah nur einen PCT für eine bestimmte Versorgungsregion vor. Patienten konnten also nicht zwischen verschiedenen PCTs wählen, sondern waren durch ihren Wohnort dem PCT ihrer Versorgungsregion zugewiesen. CCGs sind nun nicht mehr fest an bestimmte Regionsgrenzen gebunden. Ihre Einzugsgebiete können sich künftig also überschneiden. Insofern wird also auch ein Wettbewerb unter den Finanzierungsträgern um Patienten etabliert. Während die PCTs ein bevölkerungsbezogenes Budget erhielten, wird den CCGs nun ein gruppenbezogenes Budget zugewiesen. Die Gruppe, für die eine CCG zuständig ist, ergibt sich aus den Wahlentscheidungen der Patienten.
CCGs sollen im Sinne ihrer Patienten die Versorgung selbst durchführen und Versorgungsverträge mit anderen Leistungsanbietern schließen. In diesem Zusammenhang sollen sie die Vernetzung der Akteure verbessern, ihre Zusammenarbeit fördern, sich an best-practice-Modellen orientieren und selbst neue best-practice-Modelle entwickeln und etablieren (Zacharadis et al. 2013). Handlungsleitend ist dabei die Annahme, dass General Practitioners aufgrund ihrer klinischen Erfahrung über das erforderliche Wissen verfügen, um den Bedarf ihrer Patienten zu bewerten und geeignete Gesundheitseinrichtungen auszuwählen.
Gleichzeitig wird die Qualitätssicherung im britischen Gesundheitssystem ausgebaut. Clinical Commissioning Groups und Krankenhäuser unterliegen einer Pflicht zur regelmäßigen Berichterstattung. Die Kompetenzen der für die Qualitätssicherung zuständigen "Quality Care Commission" (QCC) wurden erweitert.
Im Zuge der Reform kommt es zu einer stärkeren Trennung der Verantwortung für die medizinische und pflegerische Versorgung auf der einen und der Verantwortung für die öffentliche Gesundheit (Public Health) auf der anderen Seite. Die Wahrnehmung von Public-Health-Aufgaben wird den local authorities übertragen. Auf zentralstaatlicher Ebene soll die neue Institution "Public Health England" entsprechende Aktivitäten bündeln und die Evaluation von Maßnahmen stärken (Grosios et al. 2012). Lokale "Health & Wellbeing Boards" (HWBB) sollen die Kooperation und Kommunikation von CCG-Akteuren, lokalen Behörden und anderen Gesundheitsberufe fördern. Die neu gegründete Institution "Health Watch" soll die Interessen von Patientinnen und Patienten wahrnehmen darstellen (Turner et al. 2013).
Krankenhaussektor
Daneben sind vor allem Veränderungen im Krankenhaussektor. Dem Gesetz zufolge sollen alle NHS Hospital Trusts in so genannte "NHS Foundation Trusts" umgewandelt werden. Damit erhalten die Krankenhäuser größere handlungsspielräume. Insbesondere können sie eigenständig Entscheidungen über ihre Versorgungsstrukturen (z.B. vorgehaltene Betten, Abteilungen, Anschaffung von Großgeräten) sowie über Investitionen treffen. Sie können privates Kapital aufnehmen und auch ihre Überschüsse für Investitionen verwenden. Außerdem entfällt die bisherige Obergrenze für Einnahmen durch Privatpatienten ("private patient cap"). Krankenhäuser müssen nun nur noch mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen aus der Behandlung von NHS-Patienten erwirtschaften.
Der Health and Social Care Act in der Diskussion
Der Health and Social Care Act war und ist in der britischen Öffentlichkeit heftig umstritten. Die Befürworter betonen insbesondere die Chancen für eine verbesserte Patientenorientierung sowie für eine stärkere Integration von Versorgungspfaden. Davon erhoffen sie sich eine bessere Versorgungsqualität und eine Verkürzung von Wartezeiten. Auch die Stärkung der Qualitätssicherung durch die Schaffung neuer Institutionen bzw. die Erweiterung ihrer Kompetenzen lässt darauf hoffen. Offen muss bleiben, wie sich die Kooperation der lokalen Behörden, die für die öffentliche Gesundheit verantwortlich sind, mit den CCGs, die für die medizinische und pflegerische Versorgung verantwortlichsind, entwickelt. Hier liegen Potentiale für eine Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit und für eine Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten.
Kritiker halten die Erwartungen an zu erzielende Einsparungen und an einen Abbau von Bürokratie für unrealistisch. Sie machen im Gegenteil geltend, dass die Reform einen Bruch mit den gewachsenen und im Kern bewährten Strukturen des NHS darstelle. Außerdem drohe mit der Vielzahl der CCGs eine Fragmentierung des NHS (Turner et al. 2013; Zachariadis et al. 2013). Die Bürokratie dürfte eher zunehmen, und die Ärzte könnten mit Verwaltungsaufgaben überlastet werden. Strukturen, die die CCGs dabei unterstützen, integrierte Versorgungspfade zu entwickeln und die Vernetzung der Akteure zu fördern, sind bisher nicht in Sicht. Auch beklagten viele ein zu hohes Reformtempo.
In der Diskussion wird auch darauf hingewiesen, dass die Reform erhebliche Gefahren für die Qualität und Sicherheit der Versorgung birgt (z.B: Lewis/Thorlby 211; Klein 2013). Vor allem halten sie den gleichen Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zur medizinischen Versorgung für gefährdet, weil die neuen CCGs als entscheidende Träger der Vertragspolitik und der Sicherstellung erhebliche Anreize zur Risikoselektion erhalten (Hajen 2012). Gefördert werden diese Anreize dadurch, dass bei der Finanzmittelzuweisung an Clinical Commissioning Groups die Morbidität der Patienten und damit ihr Behandlungsbedarf nur indirekt (z.B. über das Alter der Patienten) erfasst wird (Turner et al. 2013).
Dies gilt auch für Ärzte. Patienten haben jetzt größere Rechte bei der Wahl ihres Arztes und müssen sich nicht mehr für einen Arzt in Wohnortnähe entscheiden. Wenn sie ihr Wahlrecht ausüben, könnten Ärzte bestrebt sein, gute Risiken zu selektieren (Pollock et al. 2012).
Die mangelnde Bedarfsgerechtigkeit der Finanzmittelzuweisungen an die CCGs begünstigt bereits bei den NHS-Akteuren das Entstehen einer Risikoselektion. Zusätzlich könnte die damit entstehenden Gewinnmöglichkeiten private Dienstleister auf den Plan rufen. Damit vergrößert sich die Gefahr einer stark profitorientierten Ausrichtung der medizinischen Versorgung im NHS. Zudem könnte ein entstehender Preiswettbewerb unter den Clinical Commissioning Groups und den Ärzten die Qualität der Versorgung mindern
Schließlich befürchten manche Experten auch, dass die CCGs als neu geschaffene Einrichtungen nicht in der Lage sein könnten, das in den PCTs angehäufte Erfahrungswissen über "good practice" auszuschöpfen und zu nutzen verstehen (Russell et al. 2013). Zudem stehen weiterhin die medizinische Versorgung und nicht die Verbesserung von Prävention und Gesundheitsförderung im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik (Turner et al. 2013).
Fazit
Der Health and Social Care Act stellt die vermutlich weitreichendste Reform des NHS seit dem Beginn der 1990er Jahre dar. Mit ihm wird das englische Gesundheitssystem dezentralisiert und weit stärker als in der Vergangenheit wettbewerblich ausgerichtet. Ob die erhofften Verbesserungen von Qualität und Wirtschaftlichkeit eintreten werden, wird abzuwarten sein. In jedem Fall birgt die Reform erhebliche Risiken. Insbesondere betrifft dies die Gefahren der Risikoselektion und den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen. Das Gesundheitssystem in Großbritannien nimmt mit dieser Reform weitere Elemente an, die einem staatlichen Gesundheitssystem fremd sind. Zwar sind die Konturen eines staatlichen Gesundheitssystems noch deutlich erkennbar, aber wettbewerbliche Elemente gewinnen erheblich an Bedeutung. Indem mit den CCGs Finanzierungsträger geschaffen wurden, die im Wettbewerb um Patienten stehen, nähert sich das englische Gesundheitssystem dem deutschen deutlich an.
Es besteht ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Parteien in Bezug auf die Grundprinzipien der Finanzierung und Organisation der Gesundheitsversorgung.