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Utopien und Dystopien des Internets und der sozialen Medien

Prof. Dr. Maren Hartmann

/ 14 Minuten zu lesen

In einer Zeit globaler Krisen scheint der Ruf nach Utopien lauter denn je. Greffrath argumentiert, wir bräuchten einen neuen Begriff: "Heimat", als fundamentales Netzwerk, das uns am Leben erhält. Doch wie verhalten sich Technik-Utopien in diesem Kontext? Sind soziale Medien und KI die Antwort oder nur ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Sehnsüchte? Dieser Beitrag navigiert durch die komplexe Landschaft von Utopien, Technologie und der Suche nach Zugehörigkeit in der digitalen Ära.

Illustration: www.leitwerk.com

Ein Beitrag zur Frage des „Warum?“ von Utopien im Deutschlandfunk vom 18.12.2022 ist unter anderem betitelt mit „Die Ideen sind da, doch wir noch nicht so weit.“ Krisen, so sagt Mathias Greffrath, der Autor des Beitrags, begünstigten Utopien. „Krisen sind Zeiten, in denen Menschen mehr als sonst bereit sind, Weltgeschehen und grundlegende Diagnosen wahrzunehmen, über Zusammenhänge zu stutzen und vielleicht nachzudenken“. Da wir uns momentan in (nicht nur) einer massiven Krise befinden, wäre dies eigentlich kein schlechter Moment für die Utopie. Greffrath aber betont, dass wir zunächst einen neuen (Gegen-)Begriff benötigen: „Der Gegenbegriff zur Utopie – der lautet nicht Dystopie, sondern Heimat. ... Heimat als der Grund und das Netz von Beziehungen, von denen ich abhänge, die mich – ganz wörtlich – am Leben halten, die ich brauche, an denen und mit denen ich sein will“. Seine Antwort auf die Krise der Utopie ist somit eher auf der Mikro-Ebene angesiedelt.

Wir nähern uns im Folgenden schrittweise einer weiteren Mikro-Ebene oder auch einer Unterkategorie von Utopien: der Technik- bzw. Techno-Utopie. Diese taucht immer wieder in neuen Gewändern auf, häufig getarnt als Dystopie. Just die Technik-Utopie aber ist es, über die viele Diskurse geführt werden, stellvertretend für das, was die Gesellschaft gerade umtreibt. Derzeitige Debatten über Künstliche Intelligenz sind ein Beispiel dafür. Ob „Heimat“ darauf die oder zumindest eine richtige Antwort ist, werden wir am Ende der Auseinandersetzung mit dem Thema noch ansatzweise erörtern. Bevor wir uns aber aktuellen Beispielen, insbesondere Utopien zu sozialen Medien, zuwenden, gehen wir ein paar Schritte zurück und widmen uns zunächst einigen früheren (techno-)utopischen Momenten.

Techno Utopien

Lassen Sie uns am Anfang beginnen: Die Verbindung zwischen utopischem Denken und Fragen von Technik ist eine langwährende. In den frühen Tagen der Industrialisierung und damit einhergehenden Technifizierung der Welt wurde Technik häufig als Teil der Befreiung des Menschen aus dem Unwissen, aus der Sklaverei und Unterjochung gepriesen und imaginiert. Spätestens mit der makabren und undenkbaren Zuspitzung dieser Entwicklungen im 20. Jahrhundert stellte sich die Frage, ob die Utopie von der Befreiung des Menschen (durch die Aufklärung) nicht insgesamt hinfällig geworden sei. Damit einher ging eine deutliche Kritik technischer Entwicklungen, insbesondere auch solcher, die primär die Kultur betrafen. Die Kritik reichte vom Verlust der Aura des Kunstwerkes, d.h. seiner einmaligen Erscheinung, aufgrund der nun vorherrschenden "technischen Reproduzierbarkeit" hin zur zunehmend industriell geprägten Art der künstlerischen Produktion. Insbesondere dem Film, aber auch dem Radio und nahenden massenkulturellen Phänomenen wurde vorgeworfen, Bürger_innen ihrer Mündigkeit zu berauben und sie stattdessen dem stumpfsinnigen Konsum auszusetzen, welcher dem kritischen Denken nicht zuträglich war.

Dennoch war diese kulturpessimistische Sicht auf sowohl das soziale Leben als auch technische Entwicklungen nicht der einzige gesellschaftliche Diskurs der Nachkriegszeit. Denn utopisches Denken – auch das ist in gewisser Weise Ausdruck seiner Relevanz – ist hartnäckig und kehrt immer wieder auf neue Art und Weise zurück. So genannte Techno-Utopien, in denen neue Technik als Vehikel zur Verbesserung des menschlichen Lebens angepriesen wurden , hatten ebenfalls Konjunktur. Einiges davon fand sich in Science-Fiction-Literatur und -Filmen , anderes wiederum in Imaginationen zu zukünftigen Smart- oder Media-Homes , auf Weltausstellungen oder den Messeständen bei der Internationalen Funkausstellung. Diese Aufzählung ist allerdings nur der Beginn einer möglichen langen Liste. Was sich hier bereits abzeichnet aber ist die zum Teil sehr starke Technik-Fixierung. Neue bzw. zukünftige Technologien werden hierbei mit Fortschritt gleichgesetzt (und auch dieser wird nur in der eingeschränkten Form eines Beschleunigungs- und Wachstumsparadigmas gedacht). Hierin lässt sich zugleich ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zum weniger technikfixierten utopischen Denken erkennen.

Reproduktion der Figur Maria aus dem Film "Metropolis" (1927), gezeigt in der Ausstellung "Roboterträume" von Tinguely Museum und Kunsthaus Graz. Der Stummfilm ist einer der bedeutendsten Science-Fiction-Filme. Er spielt in einer hochtechnologisierten Stadt, in der eine Zweiklassengesellschaft herrscht. (© picture alliance / dpa | Georgios Kefalas)

Dieses utopische Denken der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich, laut Robert Kozinets, in drei unterschiedlichen Formen charakterisieren: zunächst als eine Form von Literatur, häufig in Form der bereits genannten Science Fiction oder auch in politischen Schriften. Zweitens kann eine Utopie als 'systemische Andersartigkeit' verstanden werden, die es ermöglicht, sich eine alternative Gesellschaft auszudenken und ein besseres Leben wünschen. Dies erscheint auch in der dritten Interpretation von Utopie, welche an politische Bewegungen geknüpft ist und auch hier – nach dem Bloch'schen 'Prinzip Hoffnung' – auf eine bessere Welt hofft. Diese drei Teile finden sich in Kozinets' Auseinandersetzung mit dem, was er „YouTube utopianism“ nennt. Er unterstreicht, dass die zunehmende Digitalisierung dem utopischen Gedankengut neuen Auftrieb verleiht. Kozinets' Unterteilung ist insofern hilfreich, als dass alle drei genannten Formen in den frühen Versionen der Techno-Utopien des späten zwanzigsten Jahrhunderts kulminieren. Die Hoffnung auf eine andere Art des Lebens, eine tatsächlich andere Gesellschaft, findet hier mannigfaltigen Ausdruck. Dickel und Schrape weisen darauf hin, dass die populären Medienutopien im Internetzeitalter nur scheinbar frei von ideologischen Verzerrungen seien. Vielmehr wecken sie Erwartungen hinsichtlich des technologischen Potenzials und weitreichender sozialer Transformationen und versehen diese mit einem neuartigen, schimmernden revolutionären Vokabular.

Die neunziger Jahre insbesondere boten tatsächlich einen spezifischen Moment (zumindest in manchen Teilen der Welt): Es schien einerseits politisch vieles möglich (die Mauer war gefallen, die Bedrohung des Kalten Krieges schien in den Hintergrund zu treten, etc.). Andererseits schienen neue Lebensweisen für mehr Menschen in greifbare Nähe zu rücken, während zugleich die digitalen Medien eine Spielwiese für neue Identitäten, besseren globalen Austausch und vieles andere mehr zu bieten schienen. Es war die Zeit der Manifeste und der großen Worte ('Datenautobahn', 'elektronische/digitale Demokratie', 'Cyberspace' etc.). Dennoch waren schon früh auch Warnglocken zu hören, wenn auch häufig von denjenigen, die zugleich begeistert mitmischten in der Entwicklung von Webseiten, Chat rooms, Message boards und anderem mehr. Die „kalifornische Ideologie“ war eine Version dieser Kritik.

Eine Kritik der frühen Internet-Techno-Utopien: Kalifornische Ideologie

Im Zentrum der Kritik stand die ökonomische Komponente dieser "kalifornischen" Techno-Utopie. Technologie – insbesondere digitaler Art – ist „Big Business“. Liberalisierungen des Marktes aber, so die Autor_innen, führten selten zu einer gerechteren Gesellschaft. Privatwirtschaftliche Unternehmen beuteten häufig aus, d.h. das gute Leben der einen basiere auf der Ausbeutung anderer, auch in Tech-Unternehmen. Zugleich hätten viele der wichtigen Tech-Gründungen des zwanzigsten Jahrhunderts ohne staatliche Unterstützung nicht zustande kommen können.

Die Kalifornische Ideologie

„The Californian Ideology“ war der Titel eines Artikels in der Zeitschrift Mute, der 1995 von Richard Barbrook und Andy Cameron von der britischen University of Westminster verfasst worden war. Sie waren die Gründer eines Master-Programms in „Hypermedia“ und damit stilgebend für einige der frühen Internet-Gestalter_innen. Der – durchaus polemische – Artikel wurde seitdem viel gelesen und häufig zitiert, als eine kompakte und frühe Kritik der neoliberalen Ausrichtung des damals gerade erst zu einem weit verbreiteten Medium aufsteigenden Internets (eine Kritik des „Dotcom Neoliberalismus“ ). Barbook und Cameron analysieren in ihrem auf verschiedenen Kanälen (und in unterschiedlichen Versionen) verbreiteten Artikel die Entstehung vernetzter Technologien im Silicon Valley in den frühen 1990er Jahren, die ihrer Meinung nach eine fatale Kombination aus US-amerikanischem Liberalismus und technologischem Determinismus darstelle und dabei sowohl eine linke als auch eine rechte Ausrichtung bediene.

Deutlich wird außerdem, dass neben der (Hyper-)Kommerzialisierung vor allem Überwachungspraktiken ein Problem darstellen. Beide zusammen haben, wie der Politikwissenschaftler Thorsten Thiel bereits 2014 feststellte, zu einer „Entzauberung der Netzentwicklung“ geführt. Denn beide – Kommerzialisierung und Überwachung – „erschüttern den Glauben an das ‚gute‘ Internet, da sie die Fragilität der Bedingungen aufzeigen, auf denen die positiven Projektionen beruhen. Das Internet, in dem wir uns heute alle und ständig bewegen, ist ein anderes als jenes, welches von den Pionier_innen und Nerds erträumt wurde“. Diese Fragilität war zum ersten Mal spürbar, als die so genannte DotCom-Blase im Jahr 2000 zerplatzte und etliche Unternehmen vor dem Aus standen.

Wie so häufig aber belebt jede neue technologische Entwicklung (sei es in Form von Geräten oder aber von Anwendungen) das utopische Denken wieder. Und das war mit dem Aufkommen der so genannten sozialen Medien nicht anders. In einem nächsten Schritt widmen wir uns diesen.

Utopien/Dystopien der sozialen Medien

Wie so vieles brachte auch die Entstehung der so genannten sozialen Medien (bzw. der Web 2.0-Anwendungen) neue Hoffnungen mit sich: es gab vor der oben erwähnten Entzauberung zunächst eine erneute Verzauberung. Diese entstand nur wenige Jahre nach dem Börsen-Absturz, ungefähr Mitte der Nullerjahre. Im Gegensatz zu den teilweise noch statischen Web-Anwendungen der neunziger Jahre gab es nun interaktive und kollaborative Anwendungen, die insbesondere die nutzergenerierten Inhalte in den Mittelpunkt stellten. Das Phänomen des Teilens („sharing“) bekam neuen Auftrieb (seien es Videos (auf YouTube), Fotos (auf Flickr), Musik (auf Napster) oder auch Wissen (auf Wikipedia)). Social network sites (SNS) entstanden und betonten damit die andere Art des Teilens, des Mitteilens und Vernetzens, möglichst als reale Person und weniger identitätsverspielt (ein Charakteristikum der frühen Jahre).

DotCom-Blase

Diese weltweite Spekulationsblase betraf vor allem Technologieunternehmen (deswegen auch "DotCom": der Name bezieht sich auf die Top-Level-Domain '.com' (commercial)). Der entsprechende Börsencrash führte unter anderem zu Vermögensverlusten bei Kleinanlegern, bedeutete aber auch das Ende für einige der Technologieunternehmen der ersten Generation. Spätestens da hatte sich der Charme der kalifornischen Ideologie bzw. des Web 1.0 verflüchtigt und ein gewisses Misstrauen gegenüber den bis dahin gehypten Unternehmen und ihren weitreichenden Versprechungen machte sich breit.

Utopien wurden seltener explizit gepflegt als es in der ersten Phase der Fall war und doch waren die Vorstellungen über das „Web 2.0“ visionär. Es geht um nicht weniger als „kollektive Intelligenz“, aber auch um eine vielfältige Nutzer_innen-Erfahrung, um neue Arten der Programmierung – und ultimativ um neue Geschäftsmodelle. Allzu viele Rechte sollten den Entwicklungsfluss nicht behindern (denn wie sonst kann man teilen?), Daten sind das neue Gold – und Nutzer_innen arbeiten (umsonst) daran mit, Daten zu produzieren. Just diese Schlagworte prägten das (utopische) Denken der Nullerjahre. Insbesondere Stichworte wie die „Weisheit der Massen“ und nutzergenerierte (ökonomische) Werte schienen die Nutzer_innen einerseits Ernst zu nehmen und andererseits zu befähigen. Es war das Versprechen neuer, egalitärer Strukturen und Kommunikationsflüsse, die verlockend wirkten. Interessanterweise aber waren die grundsätzlichen Versprechen dann doch wieder sehr „kalifornisch“: möglichst geringe staatliche Intervention sollte garantieren, dass die große neue Freiheit entstehen kann (und Meinungen, Wissen und Geld frei fließen und für alle zugänglich sind).

Besondere Anziehungskraft hatte das Versprechen auf andersartige Strukturen in der Medienlandschaft, welche Nutzer_innen stärker in den Mittelpunkt rücken und auch eigenständig Medieninhalte kreieren lassen sollten. Autorität, wie wir sie lange kannten, wäre damit radikal verändert, denn die Macht des exklusiven Wissens wäre somit überfällig. Stattdessen sollten die neuen Netze erlauben, dass Wissen geteilt und damit auch besser verteilt wird. Das Aufkommen sozialer Medien verstärkte den Möglichkeitsraum der Beteiligung noch einmal massiv. Denn in den neunziger Jahren bedurfte es noch einer aufwändigen Auseinandersetzung mit dem Digitalen, um selbst etwas beitragen zu können. Mit dem Aufkommen von Facebook, Twitter und YouTube aber veränderten sich der Konsum, die Vernetzung und auch die Möglichkeit der simplen Beteiligung. Die Hoffnung auf eine gerechtere Welt wurde zum wiederholten Mal technologisch angereichert.

Daraus ist inzwischen eine sehr viel bescheidenere Vision geworden und die Suche nach expliziten Utopien zu sozialen Medien fördert vergleichsweise bedeutungslose Ergebnisse zutage. Zyniker_innen schreiben zum Beispiel von einem KI-Assistenten, der eine Art "technikaffinen Schutzengel" darstellt, welcher auf geheimnisvolle Weise weiß, wie er jegliche Anfragen erfüllen, jeden unendlich scrollbaren Feed mit Suchergebnissen, Produkten und Freundes-Updates sortieren und nach persönlichen Bedarfen aufbereiten kann. Der auf künstlicher Intelligenz basierende Assistent soll für jede/n von uns das Netz und damit verbundene Bedürfnisse nahtlos organisieren: ein wenig wie Heinzelmännchen 5.0, diesmal aber mehr auf Konsumbedürfnisse und Arbeitsnotwendigkeiten ausgerichtet. So sind nicht nur Utopien mit ökonomischen Überlegungen eng verknüpft, wie bereits diskutiert, sondern Utopien an sich sind die perfekte Ware. Elon Musk macht beispielsweise nicht nur mit E-Autos Geld, sondern auch mit kommerziellen Flügen ins All. Zugleich – und sehr viel erschwinglicher – werden so genannte 'Digital Detox' Ferien angeboten, in denen jede/r von uns vermeintlich neue Formen der Gemeinschaft und der inneren Ruhe erfahren kann, sobald er/sie nur bereit ist, das Smartphone für eine Weile abzugeben.

Hinsichtlich sozialer Medien hingegen ist die Dystopie nur selten weit entfernt, unter anderem bei Glidewell in seinem Artikel „A Utopian Dystopia“. Er warnt, dass jede/r, der/die einmal den Bildschirm der so genannten Utopie niederlegt, erkennen wird, dass dieser Bildschirm eine Blende für die Degradierung der Gesellschaft hin zu einer verzerrten Dystopie darstellt. Es werden, laut Glidewell, derzeit nicht nur unsere Daten gestohlen, sondern vielmehr unser Leben. Dass der Technologie hierbei eventuell zu viel Macht zugestanden wird (es grüßt der technologische Determinismus), und damit die eigene Handlungsfähigkeit als extrem eingeschränkt empfunden wird, scheint nicht zu stören. Unklar sind häufig auch die Alternativen. Stattdessen dominiert das Dystopische.

Das Utopische hingegen umschreibt - wenn überhaupt - tendenziell eine Rückkehr zur guten alten Zeit, in der die Welt einfach noch in Ordnung war und in der die neuen Technologien noch nicht alle sozialen Bindungen zerstört hatten (überspitzt formuliert).

Dennoch ist Glidewells Bedrohungsszenario durchaus fundiert: Die zunehmende Radikalisierung, gekoppelt mit einer Zunahme an Hate Speech bzw. Hate Crimes, die in sozialen Medien oft ein Sprachrohr finden, ist alarmierend. Die zunehmende Überwachung durch Konzerne und zum Teil auch Regierungen ist es ebenso. Zugleich unterstreicht die Monopolisierung einen zunehmenden Verlust an Autonomie. Und hier sind wir beim eigentlichen Paradox: Zu Beginn des Internets hatten wir es noch mit einer Hoffnung zu tun „für eine technologisch vermittelte Umsetzung der Ideale der Aufklärung, wie sie von Immanuel Kant in den Kanon der westlichen Kultur eingeschrieben wurden“. Jetzt hingegen verbreitet sich zunehmend ein Gefühl der immer eingeschränkteren Freiheit: statt Zu- sogar eine Abnahme.

Kozinets, der oben genannte Autor, der den Begriff des „Youtube-Utopismus“ verwendet hat, verweigert sich jedoch dieser Diagnose. Er hält entgegen, dass wir vielleicht etwas differenzierter mit dem umgehen müssen, was derzeit online passiert, unter anderem in Form von „clicktivism“ und anderen Schmalspur-Protest- und Engagement-Formen. Kozinets attestiert ein zartes Potenzial in diesen alltäglichen und durchaus konsumgetriebenen Formen des Utopischen und möchte dem vermeintlichen Widerspruch zwischen der oben genannten Kommerzialisierung und dem utopischen Potenzial keinen Raum geben. Dieses zarte Potential stammt von seiner Analyse utopischen Denkens, welches er auf verschiedenen YouTube Datenseiten gefunden hat. Auch andere Autor_innen verweisen seit geraumer Zeit auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung von politischem Aktivismus online, die Platz lässt für utopische Elemente, die Gefahren des Extremismus und der kommerziellen Übernahme aber im Blick behält.

So sind viele derzeitige Debatten zu 'Fake News' und Erfahrungen von Online-Hassangriffen durchaus (komplex) verknüpft mit der Abwehr von staatlicher Regulierung und einem individualistischen Verständnis von Freiheit. Einen positiven Gegenpol wiederum stellt hier die Allgemeine Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) dar, ein EU-Gesetz zum Schutz der personenbezogenen Daten von Bürger_innen, weiter gedacht als viele andere Konzepte ihrer Art (und dennoch nicht unumstritten ). Ganz andere Folgen des Technik-deterministischen Liberalismus sind z. B. die vielfach diskutierten (schlechten) Arbeitsbedingungen der Arbeiter_innen, welche digitale Geräte herstellen, oder von Lieferdienst-Kurier-Fahrer_innen. Weitere materielle Ausformungen stellen mit Digitalisierung verbundene Gentrifizierungsprozesse dar oder auch die fehlenden Möglichkeiten, sich als Migrant_in oder obdachloser Mensch für SIM-Karten zu registrieren, sofern keine Adresse vorhanden ist.

Schaut man also auf die ökonomische bzw. organisationale Seite der sozialen Medien im Kontext der Utopie-Frage, so ist die Zeit schon lange reif für dystopische und nicht utopische Gedanken. Insbesondere die Plattform-Ökonomie hat ihren anfänglichen Charme verloren und wird inzwischen vor allem hinsichtlich ihrer Monopol-Stellung und damit einhergehenden Dominanzen stark kritisiert.

Die Erfindung einer (un)möglichen Zukunft

Technikutopien haben häufig das große Problem, dass sie das Hilfsmittel der Technologie fundamental überhöhen und dabei das große Ganze aus dem Blick gerät. Hier wäre es vielleicht ratsam, sich auf einen simplen Aspekt aus den Techno-Utopien der 90er Jahre zu besinnen, der zu wenig beachtet wurde. Dabei hat schon der „Guru“ des frühen Cyberspace-Hypes (und Teil der kalifornischen Ideologie), Howard Rheingold, in seinen Ausführungen zu virtuellen Gemeinschaften betont, dass diese durchaus nicht als rein virtuelle zu verstehen seien, sondern dass es just die Kopplung von „realen“ und virtuellen Welten war, welche die Faszination und den Erfolg der so genannten virtuellen Gemeinschaften ausmachten. An Gemeinschaft aber und an geteilten Öffentlichkeiten mangelt es uns.

Um die notwendige Spielwiese der digitalen Technologien zu erhalten, braucht es wahrscheinlich eine deutlichere Konzentration auf den sozialen Zusammenhalt inner-, aber vor allem außerhalb des Digitalen. Zugleich kann man heutzutage die massive Bedeutung von Technologien unter anderem für das Soziale nicht unterschätzen. Sie zu verneinen wäre naiv und falsch. Das heißt aber wiederum auch, dass diese Technologien durchaus Teil von Utopien sein sollten und heutzutage wahrscheinlich sogar sein müssen. Dennoch ist die Idee des „social first“ wichtig, d.h. die Betonung (und Adressierung) sozialer Fragen vor der und im Zusammenhang mit der Einführung und Nutzung von Technologien. Und damit wären wir auch wieder bei der Frage der „Heimat“, die zu Beginn des Artikels aufgeworfen wurde.

Im anfangs erwähnten Radiobeitrag von Greffraths wurde die Annahme vertreten, es bedürfe eines neuen Gegenbegriffs zur Utopie. Er nannte dazu den Begriff der Heimat, das Beziehungsnetzwerk, welches mich umgibt und am Leben erhält und welches wiederbelebt werden, damit der Raum besiedelt wird (die „Heimat“), „in dem wir immer schon sind“ - kein abgeschlossener, sondern ein alle einschließender Raum. Greffrath bezieht sich dabei auf Utopien generell, nicht spezifisch Technik-Utopien. Dennoch lässt sich sein Ansatz auch gut auf technologische Zukünfte übertragen bzw. anwenden. Denn, wie bereits oben angedeutet: Technologien als solche sind keine Lösung, so weitreichend sie auch sein mögen. Es bedarf stattdessen einer größeren Auseinandersetzung bzgl. des sozialen Zusammenhalts. Heimat ist dafür eventuell ein zu statischer Begriff. Der Ansatz des „homing“ allerdings, der Verheimatung, ist in seiner Prozessbetonung offener und auch weniger auf das beschränkt, was uns bereits umgibt. Homing betont den Prozess der Konstruktion eines Zuhause-Fühlens auf multiplen Wegen, vor allem als kommunikative Konstruktion. Damit ist ein Ziel benannt: sich zuhause fühlen zu können. Vor allem wird auch der Prozess als solcher mit adressiert: Nur in einer Umgebung, die mich auch sprechen lässt und wahrnimmt, kann ich dieses Gefühl entwickeln.

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Maren Hartmann ist Professorin für Kommunikations- und Mediensoziologie an der Universität der Künste (UdK) Berlin und Leiterin des dort ansässigen Vilém-Flusser-Archivs. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Aneignung von Medien im Alltag (und hier auf dem Domestizierungsansatz). Insbesondere Fragen der Mobilität und der sozialen Ungleichheit, aber auch neuer Forschungsmethoden beschäftigen sie in diesem Zusammenhang. Sie hat vor kurzem ein DFG-gefördertes Forschungsprojekt zu Obdachlosigkeit und Mediennutzung beendet and arbeitet derzeit an der Einordnung und Kommunikation der Ergebnisse.