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Eine Wahl, die Europas Zukunft mitentscheidet

Nicolai von Ondarza

/ 7 Minuten zu lesen

Die politische Bedeutung der Europawahlen ist höher denn je – immer mehr wichtige Entscheidungen werden unter Mitbestimmung des Europäischen Parlaments getroffen. Was sind die zentralen Handlungsfelder der EU? Und welche Änderungen sind nach den Europawahlen 2024 im Europäischen Parlament zu erwarten?

Ein großes Plakat an der Außenseite des EU-Parlaments in Straßburg weist auf die anstehenden EU-Wahlen hin. (© picture alliance / Panama Pictures | Dwi Anoraganingrum)

Die Europawahlen galten in der Forschung lange Zeit als zweitrangige Wahlen und als Instrument zur Abstrafung der nationalen Regierungen. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Denn sowohl die zahlreichen Krisen der letzten Jahre als auch die Regulierung von Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz zeigen - immer mehr wichtige politische Entscheidungen werden im Rahmen der EU getroffen. Nicht alle, aber viele davon unter voller Mitbestimmung des Interner Link: Europäischen Parlaments (EP). Umfragen gehen davon aus, dass es bei den Europawahlen 2024 zu deutlichen Zugewinnen rechtsextremer Parteien und einer Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament kommen könnte. Dies wird Auswirkungen auf zentrale EU-Politiken wie Migration, Klima und Energie oder Sicherheit haben. Wer diesen Wandel mitgestalten will, muss sich an den Europawahlen beteiligen.

Heute nur noch teilweise gültig: Europawahlen als Protestwahlen

Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben nach wie vor einen besonderen Charakter. Rechtlich sind sie eher eine Serie von 27 nationalen Wahlen, die nicht parallel, sondern über vier Tage verteilt stattfinden. Das Wahlrecht unterscheidet sich ebenfalls leicht in den Mitgliedsstaaten. Zwar legt der Interner Link: europäische Direktwahlakt fest, dass nach dem Verhältniswahlsystem gewählt wird, die genaue Ausgestaltung unterliegt jedoch nationaler Regelung. In Deutschland beispielsweise dürfen 2024 erstmals 16- bis 17-Jährige wählen. Auch stehen nur nationale, keine Interner Link: europäischen Parteien auf dem Wahlzettel.

Hinzu kamen oft wiederholte Interner Link: Zweifel an den Mitentscheidungsrechten des Europäischen Parlaments. Europawahlen galten daher politisch lange Zeit als Interner Link: Wahlen zweiter Ordnung, bei denen sich die Wahlkämpfe häufig um nationale Themen drehten und die Wähler:innen ihre Stimme vor allem aus nationalen Motiven abgaben. In der Folge ist die Interner Link: Wahlbeteiligung bei Europawahlen bis 2014 kontinuierlich gesunken und lag z. B. in Deutschland mit ca. 48 Prozent (2014) eher auf dem Niveau von Landtags- als von Bundestagswahlen. Bei den Ergebnissen wurden die nationalen Regierungsparteien oft abgestraft, während neue und/oder Protestparteien besonders erfolgreich waren.

Doch viele dieser Vorbehalte gelten heute nicht mehr. Bereits Interner Link: 2019 ist die Wahlbeteiligung in Teilen Europas deutlich gestiegen, in Deutschland auf knapp über 60 Prozent. Vor allem aber ist die politische Bedeutung der Europawahlen 2024 aus drei Gründen höher denn je:

Immer mehr wichtige Entscheidungen werden in der EU getroffen

Erstens werden immer mehr wichtige Entscheidungen, die das öffentliche Leben unmittelbar betreffen, im Rahmen der EU getroffen. Dies zeigt besonders ein Blick auf die großen europäischen Entscheidungen der zu Ende gehenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (2019-24). Diese war einerseits geprägt von großen Krisen und Umbrüchen, insbesondere mit der Externer Link: Corona-Pandemie und dem Externer Link: russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In beiden Krisen war der Zusammenhalt der EU bedroht wie selten zuvor, aber nach jeweils kurzer Schockstarre hat die Union wichtige Entscheidungen getroffen. Dazu gehörten die Bereitstellung wichtiger öffentlicher Güter wie der gemeinsame Kauf von Impfstoffen, die Unterstützung von Kurzarbeitsprogrammen zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit während der Stillstandsphasen oder der gemeinsame Interner Link: Wiederaufbaufonds zur Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung in Europa. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben die EU-Staaten gemeinsam beispiellose Externer Link: Sanktionen gegen Russland beschlossen (mit teilweise flexiblen Ausnahmen für einzelne Staaten), die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge organisiert, die militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine koordiniert und gemeinsame Beschlüsse gefasst, um die hohen Energiepreise abzufedern.

Zum anderen ist der EU-Rahmen von zentraler Bedeutung für die Interner Link: Regulierung und Steuerung von Zukunftstechnologien sowie der digitalen und wirtschaftlichen Transformation. Das größte Projekt der von der Leyen-Kommission war beispielsweise der Interner Link: Green Deal mit weitreichenden, aber zum Teil politisch hoch umstrittenen Weichenstellungen wie dem Interner Link: Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035, schärferen Klimazielen und der Interner Link: Ausweitung des CO2-Zertifikatehandels. Auch ist nur die EU groß genug, um international agierende Big-Tech-Konzerne zu regulieren, etwa mit dem Externer Link: Gesetz für digitale Märkte, der Externer Link: Richtlinie zur Vereinheitlichung von Ladekabeln oder dem Externer Link: Gesetz für Künstliche Intelligenz, der ersten großen Regulierung in diesem sehr dynamischen Bereich weltweit. Nicht zuletzt betreffen zentrale Entscheidungen der EU eines der kontroversesten öffentlichen Themen der letzten Jahre, die Migration. Hier hat die EU zuletzt mit der Überarbeitung des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), aber auch mit der zunehmenden Externalisierung der Asylpolitik durch Abkommen mit der Türkei oder Ägypten weitreichende und umstrittene Entscheidungen getroffen.

Das EU-Parlament entscheidet immer häufiger mit

Der zweite entscheidende Faktor sind die zunehmenden Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments. Das EP ist das einzige direkt gewählte Organ der EU. Neben dem Ministerrat/Europäischen Rat, in dem die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind, ist das EP die wichtigste demokratische Legitimationsquelle der Union.

Die Zeiten, in denen das EP ein reiner Papiertiger war, sind längst vorbei. So wählt das Europäische Parlament sowohl den Kommissionspräsidenten oder die Kommissionspräsidentin als auch die Europäische Kommission als Ganzes, allerdings jeweils auf Vorschlag des Europäischen Rates und bei den Kommissar:innen seitens der EU-Mitgliedstaaten. Im Jahr 2019 hatte der Europäische Rat mit Ursula von der Leyen allerdings eine Kandidatin vorgeschlagen, die nicht als Interner Link: Spitzenkandidatin in die Wahl gegangen war. Dennoch musste sie im Parlament eine Mehrheit organisieren. Dies gelang ihr nur knapp. Zentrale Vorhaben ihrer Kommission wie der europäische Mindestlohn oder der Green Deal waren Zugeständnisse an das Parlament, um eine Mehrheit zu sichern. 2024 tritt Ursula von der Leyen nun als Spitzenkandidatin an. Ob sie wiedergewählt wird oder jemand anderes die Kommission künftig führt, hängt entscheidend davon ab, ob ihre Interner Link: Europäische Volkspartei (EVP) wieder stärkste Kraft im EP wird und sie erneut eine Mehrheit im Parlament erringt.

Zudem ist das Parlament - und damit seine Mehrheitsverhältnisse - entscheidend für die EU-Gesetzgebung. Seit dem Interner Link: Vertrag von Lissabon wird fast die gesamte EU-Gesetzgebung im so genannten Interner Link: ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen, in dem - ähnlich wie bei den geteilten Kompetenzen in Deutschland zwischen Bundestag und Bundesrat - das Europäische Parlament und der Rat der EU gemeinsam über die Gesetzgebung entscheiden. Gleiches gilt für den Interner Link: EU-Haushalt. Ob Klimapolitik, Regulierung digitaler Technologien oder Asyl- und Migrationspolitik - in all diesen Bereichen ist das Parlament voll in die EU-Gesetzgebung eingebunden. Die Art und Weise, wie sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament gestalten, hat dementsprechend Einfluss auf die Ausrichtung der EU-Politik.

Etwas komplexer ist das Bild bei den Krisenreaktionen der EU. In der Außen- und Sicherheitspolitik etwa werden viele wichtige Entscheidungen von den Mitgliedstaaten direkt oder nur über die nationalen Regierungen im Rat getroffen, etwa bei den Sanktionen oder der Militärhilfe für die Ukraine. Auch Maßnahmen, bei denen die EU nur koordiniert, aber nicht selbst entscheidet, wie der gemeinsame Kauf von Impfstoffen oder Gas, werden nicht vom EP mitentschieden. Sobald aber der EU-Haushalt oder die EU-Gesetzgebung ins Spiel kommen, entscheidet das Parlament wieder mit. Dies ist der Fall bei der Finanzhilfe für die Ukraine, bei den Beschlüssen über die gemeinsame Beschaffung von Munition und nicht zuletzt bei der geplanten Interner Link: Erweiterung der EU um die Ukraine, Moldawien, möglicherweise Georgien und die Staaten des Westbalkans.

Eine grundsätzliche Änderung der EU-Politik ist möglich

Umso wichtiger sind die Mehrheiten, die sich nach den Wahlen im Europäischen Parlament bilden können. Hier zeichnen sich große Veränderungen ab. Bis 2019 wurde das Parlament lange Zeit von einer europäischen ‚großen Koalition‘ aus der mitte-rechts ausgerichteten EVP, in der die CDU/CSU Mitglied ist, und den Europäischen Sozialdemokraten (S&D), zu denen die SPD gehört, dominiert. Schon bei den Europawahlen 2019 wurde das Parlament fragmentierter, Interner Link: rechtspopulistische und Rechtsaußen-Parteien gewannen fast 25 Prozent der Sitze. Seither sind mindestens drei Fraktionen notwendig, um Mehrheiten zu bilden. Die von der Leyen-Mehrheit stützt sich vor allem auf EVP, S&D und Renew Europe (Europäische Liberale), bei der die FDP und die Freien Wähler Mitglied sind, sowie teilweise auf die Interner Link: Europäischen Grünen. Der europäische Green Deal der Kommission von der Leyen war dabei auch eine Reaktion auf die Zugewinne grüner Parteien in vielen EU-Staaten bei den Wahlen 2019.

Umfragen deuten auf eine Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im EP bei den Europawahlen im Juni 2024 hin. Nach Stand April 2024 könnten die Rechtsaußen-Parteien bis zu 30 Prozent erreichen. Sie bleiben aber gespalten in die nationalkonservative Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), zu der u. a. die polnische Interner Link: PiS sowie die Interner Link: ‚Brüder Italiens‘ unter der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gehören, die rechtspopulistische bis rechtsextreme Fraktion Identität und Demokratie (ID) – deren Mitglieder u. a. Marine Le Pens Interner Link: Rassemblement National, AfD und FPÖ sind - sowie bislang fraktionslose Abgeordnete etwa von der ungarischen Interner Link: Fidesz-Partei unter Viktor Orbán. Eine Mitte-Rechts- bis Rechtsaußen-Mehrheit könnte im EP erstmals arithmetisch möglich werden, auch wenn sie politisch unwahrscheinlich bleibt. So hat die mitte-rechts orientierte EVP, die gute Chancen hat, erneut stärkste Fraktion zu werden, erklärt, nur mit Parteien zusammenzuarbeiten, die „pro-Europa, pro-Ukraine und pro-Rechtsstaatlichkeit“ sind. Dies schließt weite Teile der nationalkonservativen EKR ein, nicht aber die ID. Gerade in den legislativen Bereichen, in denen das Parlament volles Mitspracherecht hat, wie etwa bei der künftigen EU-Klima-, Migrations- oder Wirtschaftspolitik, wären in diesem Szenario politische Verschiebungen wahrscheinlich.

Eine Wahl mit Konsequenzen

Insgesamt bleibt die Europawahl eine besondere Wahl. Ihre Verfahren, aber auch ihre politischen Themen sind oft noch national, aber die großen europäischen Themen spielen zunehmend in die nationalen Debatten hinein. Die Europawahl sollte daher weit mehr sein als eine Protestwahl und auch kein Wahlkampf zwischen ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ Europa. Vielmehr entscheiden die Bürger:innen mit darüber, wie die EU-Kommission künftig zusammengesetzt sein wird und welche Mehrheiten im Europäischen Parlament darüber entscheiden, ob die europäische Klimapolitik gestärkt oder die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in den Vordergrund gestellt wird, wie Zukunftstechnologien in Europa reguliert werden oder wie die europäische Migrationspolitik ausgestaltet wird. Und das sind wichtige Entscheidungen.

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Nicolai von Ondarza ist promovierter Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.