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Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Russland-Analysen Nr. 444

Gleb Bogush

/ 16 Minuten zu lesen

Der Beitrag beleuchtet die Bemühungen von Staaten und internationalen Akteuren, Kriegsverbrechen in der Ukraine aufzudecken und Verantwortliche mithilfe eines internationalen Sondertribunals zu verurteilen.

Der Internationale Strafgerichtshof ist derzeit die einzige Gerichtsbarkeit, welche eine klare Zuständigkeit für in der Ukraine begangene Verbrechen besitzt. (© picture-alliance/AP, Peter Dejong)

Zusammenfassung

Der Beitrag fasst die Debatte über die Ermittlungen und Strafverfolgung von völkerrechtlichen Verbrechen zusammen, die russische Offizielle und Militärs während der Aggression gegen die Ukraine mutmaßlich begangen haben. Die Analyse geht auf die Anstrengungen von Staaten und internationalen Institutionen ein, das Aggressionsverbrechen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord strafrechtlich zu ahnden. Der Artikel beleuchtet die Ermittlungen zur Situation in der Ukraine durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und analysiert die anhaltende Debatte zur Errichtung eines internationalen Sonderstraftribunals für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine.

Hintergrund

Russlands Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat den bewaffneten Konflikt, der bereits 2014 begann, zu einem vollumfänglichen Krieg gemacht. Am 2. März 2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution ES-11/1, die feststellte, dass die Militäroperationen der Russischen Föderation auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine eine Dimension haben, wie sie die internationale Gemeinschaft seit Jahren nicht mehr in Europa gesehen hat. Sie "missbilligte auf das Schärfste" die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, die eine Verletzung der UN-Charta darstellt. Im November 2023 hält Russland rund 16 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt. Im September 2022 verkündete Russland die Annexion von vier ukrainischen Regionen, der Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporishshja. Sie werden nun in der russischen Verfassung als Föderationssubjekte geführt, obwohl sie nur zum Teil russisch kontrolliert sind. Die russischen Streitkräfte setzen ihre täglichen Angriffe auf ukrainische Städte und Dörfer fort, die schwere Opfer fordern. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge haben Hunderttausende Militärangehörige und Zivilpersonen ihr Leben verloren. Millionen Menschen, bis zu 30 Prozent der Bevölkerung der Ukraine, mussten aus ihren Wohnorten, Häusern oder Wohnungen fliehen.

Von Anfang an wurde Russlands Aggression von massiven Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und von völkerrechtlichen Verbrechen von kolossalem Ausmaß begleitet. Die überwiegende Mehrheit davon wird den russischen Streitkräften zugeschrieben. Mit den Worten von Karim Khan, dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), ist die Ukraine zu einem "Tatort" geworden. Auf der Grundlage von internationalen und nationalstaatlichen Ermittlungen sowie Expert:innenberichten gibt es hinreichende Gründe anzunehmen, dass Offizielle und Militärangehörige sämtliche vier Kategorien von Verbrechen begangen haben, die nach dem Völkerrecht eine individuelle strafrechtliche Verantwortung nach sich ziehen ("schwere völkerrechtliche Straftaten").

Verbrechen der Aggression

Laut dem Römischen Statut des IStGH (in der Fassung der Änderungen durch die erste Überprüfungskonferenz von 2010 in Kampala) besteht das "Verbrechen der Aggression" (der in der Öffentlichkeit oft gebrauchte Begriff des Angriffskrieges ist juristisch nicht deckungsgleich mit dem Verbrechen der Aggression, Anm. d. Redaktion) in der "Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken" (Art. 8 bis). Die Aggression, die Russland ohne plausible völkerrechtliche Rechtfertigung gegen die Ukraine begangen hat, war offensichtlich rechtswidrig. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) und die Staaten der G7 haben Russlands Einmarsch explizit als Verbrechen der Aggression bezeichnet. Es besteht ein klarer wissenschaftlicher Konsens über den verbrecherischen Charakter der Aggression Russlands, bereits seit dem 24. Februar 2022 (Externer Link: https://www.justsecurity.org/80504/erklarung-von-mitgliedern-des-ausschusses-der-international-law-association-zum-volkerrechtlichen-gewaltverbot/; Externer Link: https://www.nurembergacademy.org/fileadmin/media/pdf/news/Nuremberg_Declaration_on_the_Crime_of_Aggression.pdf). Das gleiche gilt für die Grundlage für eine bestehende individuelle strafrechtliche Verantwortung von Wladimir Putin und anderer führender Persönlichkeiten der Russischen Föderation wegen des Verbrechens der Aggression.

Kriegsverbrechen

Vom ersten Tag an war der Krieg durch zahlreiche Verletzungen des humanitären Völkerrechts gekennzeichnet. Auch durch Verstöße, die durch das Völkerrecht als Kriegsverbrechen gelten, wie etwa schwere Verletzungen der Genfer Abkommen von 1949 und des ersten Zusatzprotokolls von 1977, und die völkerrechtlich eine individuelle strafrechtliche Verantwortung nach sich ziehen (Externer Link: https://ihl-databases.icrc.org/en/customary-ihl/v1/rule156). Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zur Ukraine ("Independent International Commission of Inquiry on Ukraine; IICIU") hat bei der Missachtung von wichtigen Grundsätzen des für Russland verbindlichen humanitären Völkerrechts durch die russischen Streitkräfte ein schockierendes Muster festgestellt. Zu den schrecklichsten Geschehnissen gehören die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland, die Massaker an Zivilpersonen in Butscha, Irpin und Isjum, die Bomben- und Raketenangriffe gegen zivile Objekte in Mariupol, Kramatorsk und Charkiw, sowie die Zerstörung kritischer Infrastruktur und die Misshandlung von Kriegsgefangenen. Auf der Grundlage eines beträchtlichen Konvoluts an Belegen hat die IICIU festgestellt, dass in den Gebieten, die unter die Kontrolle Russlands gerieten, mutwillige Tötungen, Angriffe auf Zivilpersonen, Folter, Vergewaltigungen sowie rechtswidrige Verbringung und Deportationen schutzbedürftiger Personen stattgefunden haben. Jede der genannten Handlungen stellen dabei jeweils ein Kriegsverbrechen dar (Externer Link: https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/hrbodies/hrcouncil/coiukraine/A-78-540-AEV.pdf). Andere internationale Organisationen und unabhängige Beobachter:innen bestätigen diese Berichte auf überwältigende Weise (Externer Link: https://www.osce.org/odihr/522616; Externer Link: https://www.amnesty.org/en/documents/eur50/5561/2022/en/; Externer Link: https://www.hrw.org/video-photos/interactive/2023/02/21/death-at-the-station/russian-cluster-munition-attack-in-kramatorsk).

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen ("unmenschliche Handlungen") bezeichnet, die als Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung erfolgen und Teil staatlicher Politik sind. Der IICIU zufolge haben russische Behörden routinemäßig Folter als Instrument eingesetzt, was als Verbrechen gegen die Menschlichkeit charakterisiert werden kann. Es gibt Belege dafür, dass ukrainische Aktivist:innen und Zivilpersonen, die sich der russischen Besatzung widersetzen, wegen ihrer Bindung zum ukrainischen Staat verfolgt wurden. Die systematische Häufigkeit dieser Taten weist darauf hin, dass es sich nicht um vereinzelte Zwischenfälle, sondern eher um ein Vorgehensmuster handelt. Damit soll die politische Zielsetzung Russlands befördert werden; die Kriegsziele, welche von Wladimir Putin mit "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" benannt wurden, zielen auf nichts anderes ab als auf eine Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit. Im Februar 2023 stellte das US-amerikanische Außenministerium fest, das "Angehörige der Streitkräfte Russlands und andere russische Offizielle in der Ukraine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben" (Externer Link: https://www.state.gov/crimes-against-humanity-in-ukraine/).

Völkermord

Völkermord wird in Artikel 2 der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören (Hervorhebung durch d. Autor, Anm. d. Redaktion):

  1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

  2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

  3. vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

  4. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

  5. gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Massenhafte Verbrechen gegen ukrainische Zivilpersonen, darunter Tötungen, Deportationen und die Überführung von Kindern, die mit beispielloser Grausamkeit erfolgten, gepaart mit der russischen Staatspropaganda, welche die Existenz des ukrainischen Volkes, der Sprache und Kultur verneinte und eine Rhetorik der Auslöschung betrieb, ließ den Vorwurf des Genozids der russischen Streitkräfte am ukrainischen Volk laut werden. (Externer Link: https://newlinesinstitute.org/rules-based-international-order/genocide/an-independent-legal-analysis-of-the-russian-federations-breaches-of-the-genocide-convention-in-ukraine-and-the-duty-to-prevent/). Die Parlamente der Ukraine, Polens, Kanadas, Estlands, Lettlands, Litauens und Irlands verabschiedeten Erklärungen, in denen ein Völkermord an den Ukrainer:innen anerkannt wird.

Völkerrechtler:innen sind allerdings unterschiedlicher Meinung, was die Stichhaltigkeit der Vorwürfe des Völkermords anbelangt. Viele von ihnen lassen Vorsicht walten, wenn es um die Frage geht, ob die besondere Absicht, eine geschützte Gruppe – in diesem Fall die Nation der Ukrainer:innen – zu zerstören, plausibel und ohne jeden Zweifel bewiesen werden kann (siehe hierzu Schabas 2022 und die Antwort von Azarov et al. 2023). Die IICIU hat bislang nicht genug Beweise gefunden, um von einer Völkermordabsicht hinter den Verbrechen zu sprechen. Allerdings wird auf glaubhafte Beschuldigungen hinsichtlich eines unmittelbaren und öffentlichen Aufrufes zur Begehung von Völkermord verwiesen, die durch Stellungnahmen russischer Staatsvertreter:innen und Propagandist:innen gegeben sei und gemäß der Konvention und dem Statut des IStGH strafbar ist. In dem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), welches die Ukraine auf Grundlage der Völkermordkonvention angestrengt hat, wird Russland beschuldigt, falsche Vorwürfe über einen Völkermord als Vorwand für seine rechtswidrige Militäroperation eingesetzt zu haben (siehe Marchuk und Wanigasuriya 2022). Auch wenn es juristisch möglich wäre, hat die Ukraine vor dem IGH nicht behauptet, Russland habe die Konvention durch einen tatsächlichen Völkermord verletzt.

Ermittlungen durch internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft

Russlands Status als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates verhindert, dass die UNO einen richtigen Ermittlungsmechanismus schaffen kann, der für die Konfliktparteien bindend ist. Drei Jahre vor dem großangelegten Einmarsch hat Russland seine Erklärung zur Anerkennung der Zuständigkeit der Untersuchungskommission (nach den Bestimmungen des Ersten Zusatzprotokolls von 1977) zurückgezogen.

Es gibt zwei andere unabhängige internationale Gremien, die Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht untersuchen: die erwähnte "Independent International Commission of Inquiry on Ukraine" (IICIU), die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen am 4. März 2022 eingesetzt wurde, und die UN-Mission zum Monitoring der Situation der Menschrechte in der Ukraine, die vom Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen entsandt wurde. Beide haben wertvolle Berichte zur Lage geliefert. Die IICIU hat insbesondere eine beträchtliche Menge Indizien und Belege untersucht und umfassende Empfehlungen zur Frage der Verantwortung abgegeben. Im Rahmen des "Moskauer Mechanismus" der OSZE haben auf Antrag der teilnehmenden Staaten zwei Expert:innenmissionen Berichte zu Verstößen gegen das Völkerrecht vorgelegt (Externer Link: https://www.osce.org/permanent-council/515874). Russland hat eine Zusammenarbeit mit den genannten Gremien abgelehnt und auf deren Anfragen nicht reagiert.

Viele ukrainische und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen dokumentieren völkerrechtliche Verbrechen und sammeln potenzielle Beweise für künftige Verfahren vor inländischen oder internationalen Gerichten (Externer Link: https://globalrightscompliance.com/project/matra-ukraine-project/; Externer Link: https://cfj.org/the-docket/ukraine/). Auch die Rolle unabhängiger Medien und investigativer Journalist:innen muss hierbei betont werden (Externer Link: https://www.nytimes.com/2022/12/27/us/politics/a-russian-military-unit-killed-dozens-in-bucha-our-investigation-shows.html; Externer Link: https://meduza.io/feature/2022/04/06/kak-ubivali-lyudey-v-buche). 2022 erhielt das Zentrum für bürgerliche Freiheiten, eine ukrainische NGO, den Friedensnobelpreis für seine Arbeit zur Dokumentation von Russlands Verbrechen in der Ukraine (Externer Link: https://www.nobelprize.org/prizes/peace/2022/press-release/).

Strafrechtliche Ermittlungen durch die Ukraine und andere Staaten

Auf der Ukraine lastet die Hauptverantwortung für die Ermittlung und Verfolgung von Verbrechen gegen das Völkerrecht, die auf ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden. In einem anhaltenden Konflikt jedoch Gerechtigkeit walten zu lassen, wobei keine Kontrolle über einen beträchtlichen Teil der Tatorte besteht und man der Hauptverdächtigen nicht habhaft werden kann, ist eine große Herausforderung. Hier ist anzumerken, dass die Ukraine ihre Gesetzgebung erst noch in Einklang mit dem Völkerstrafrecht bringen muss. Das betrifft vor allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Verantwortlichkeit der militärischen Befehlshaber und anderer Vorgesetzter (superior responsibility). Darüber hinaus sieht sich die ukrainische Strafjustiz einem Mangel an erfahrenen Richter:innen und Staatsanwält:innen gegenüber, die geübt sind, komplexe Fälle mit Bezug zum Völkerstrafrecht zu untersuchen und zu verfolgen.

Nach Angaben des Generalstaatsanwalts der Ukraine Andrij Kostin hat seine Behörde mit Stand von November 2023 genau 109.618 Fälle von Kriegsverbrechen seit dem vollumfänglichen Einmarsch Russlands registriert, sowie 3.000 andere Verbrechen im Zusammenhang mit der Aggression. Trotz der vielen logistischen und drastisch zunehmenden Schwierigkeiten sind bei ukrainischen Gerichten Verfahren aufgrund von Kriegsverbrechen anhängig, auch wenn die meisten in Abwesenheit der Angeklagten erfolgen. Da die Zahl dieser Fälle stark zunimmt, ist noch viel zu tun, um die Transparenz zu erhöhen und die Besorgnis zu zerstreuen, dass diese Verfahren womöglich nicht fair und unvoreingenommen abgewickelt werden (siehe Marchuk 2022).

Mehrere Staaten haben der Ukraine finanzielle und technische Hilfe angeboten und eigene Untersuchungen eingeleitet. Eine Koalition aus 47 Staaten, die als "Kerngruppe" bezeichnet wird (Group of Friends of Accountability Following the Aggression against Ukraine), hält oft Beratungen ab. Sieben Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und die Ukraine) haben das Joint Investigation Team (JIT) eingerichtet, unter der Ägide der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (kurz: Eurojust). Der IStGH schließt sich der Gruppe als Beteiligter an. Am 25. Mai 2022 verkündeten die EU, die USA und das Vereinigte Königreich die Einrichtung einer sogenannten "Atrocity Crimes Advisory Group" (Beratergruppe zur Untersuchung von schweren internationalen Straftaten). Deren Mission besteht darin, die Einheit für Kriegsverbrechen der ukrainischen Generalstaatanwaltschaft zu unterstützen. 2023 schloss sich Kanada der Gruppe an.

Nach Angaben von Eurojust betreiben 20 Länder, darunter 14 EU-Staaten, nationale Untersuchungen im Rahmen des Prinzips der universellen Gerichtsbarkeit, allerdings haben noch keine tatsächlichen Verfahren stattgefunden. Die deutsche Bundesanwaltschaft hat ein "Strukturverfahren" auf den Weg gebracht, mit dem Beweise für Verbrechen gesammelt werden sollen, bei denen die mutmaßlichen Täter noch nicht identifiziert wurden. Es konzentriert sich auf die Strukturen, die Verbrechen ermöglichen sowie Gruppen mutmaßlicher Täter (Externer Link: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-generalbundesanwalt-ermittelt-wegen-verdacht-auf-russische-kriegsverbrechen-a-20b9eb86-3c2d-4487-a411-cbe1ae458022).

Die "Situation in der Ukraine": Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist das einzige internationale Straftribunal, in dessen Zuständigkeit die während des Krieges in der Ukraine begangenen Verbrechen fallen. Der IStGH ist ein vertragsbasiertes internationales Gericht, das die innerstaatlichen Strafgerichtsbarkeiten ergänzt. Das Gericht kann nur dann ein Verfahren einleiten, wenn ein Staat mit Gerichtsbarkeit nicht in der Lage oder nicht willens ist, das entsprechende Verbrechen zu verfolgen oder dazu zu ermitteln. Während der Ermittlungen muss der IStGH das Verhalten aller Konfliktparteien betrachten. Auch wenn weder Russland noch die Ukraine Vertragsstaaten des IStGH sind, ist das Gericht zuständig, wenn es um Personen geht, die eines Völkermordes, Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens auf dem Gebiet der Ukraine verdächtigt werden, und zwar gemäß den ad hoc-Erklärungen, die die Ukraine 2014 und 2015 abgegeben hat. 2014 hatte die Chefanklägerin Fatou Bensouda eine vorläufige Untersuchung der Situation in der Ukraine auf den Weg gebracht. Im Herbst 2020 kam sie zu dem Schluss, dass es hinreichende Gründe gibt, die Ermittlungen fortzuführen. Diese Entscheidung hinterließ sie allerdings ihrem Nachfolger.

Am 28. Februar 2022, kurz nach Beginn der großangelegten Invasion, erklärte der neue Chefankläger des IStGH, Karim Khan, er werde die Genehmigung ersuchen, aufgrund der früheren Schlussfolgerungen der Anklagebehörde die Situation in der Ukraine zu untersuchen. Am 1. März 2022 haben 39 Vertragsstaaten die Situation in der Ukraine an den IStGH verwiesen; später stieg die Zahl auf 43. Am 2. März 2022 verkündete Khan, dass er Ermittlungen zur Situation in der Ukraine eingeleitet habe. Der Umfang der Ermittlungen umfasst sämtliche Beschuldigungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermords, die jegliche Person auf dem Gebiet der Ukraine ab dem 21. November 2013 an verübt hat. Dieses Datum war in der ersten Erklärung, die die Ukraine am 09. April 2014 beim IStGH hinterlegt hatte, genannt worden.

Der Chefankläger trieb die Ermittlungen voran, besuchte mehrmals die Ukraine und erklärte, die Ermittlungen hätten Vorrang, was zusätzliche Unterstützung durch die Vertragsstaaten erfordert. Mehrere Vertragsstaaten haben andere finanzielle Beiträge geleistet, und die Niederlande stellten dem IStGH eine Gruppe Ermittler:innen zur Verfügung. Bei einer Präsentation im Europarat am 9. Februar 2023 wies die Anklagebehörde darauf hin, bei den Ermittlungen hätten Priorität:

  1. die Deportation von Zivilpersonen, u. a. von Kindern;

  2. Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur (u. a. das Stromnetz) und

  3. Folter, Exekutionen, Filtrationslager, rechtswidrige Umsiedlungen usw.

Am 17. März 2023 verkündete der IStGH Haftbefehle gegen Russlands Präsident Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa, unter Verschluss erlassen durch Richter:innen der Vorverfahrenskammer. Beide Verdächtigte werden unmittelbar beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben; genauer, der Deportation und rechtswidrigen Verbringung von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland. Putin wurde darüber hinaus als Vorgesetztem und Oberbefehlshaber vorgeworfen, keine hinreichende Aufsicht über seine zivilen und militärischen Untergebenen ausgeübt zu haben, die Verbrechen begingen (Externer Link: https://www.russiamatters.org/analysis/how-will-iccs-arrest-warrant-putin-actually-work). Der Haftbefehl des IStGH gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt hat hitzige Debatten über dessen Immunität ausgelöst. Gemäß dem Statut des IStGH befreit die Immunität einer Person nicht vor strafrechtlicher Verantwortung; sie hindert auch nicht den IStGH, seine Gerichtsbarkeit auszuüben. Im Verfahren gegen den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir hatte der IStGH entschieden, dass Vertragsstaaten verpflichtet sind, den Haftbefehl zu vollziehen, auch wenn er gegen das Oberhaupt eines Staates erlassen wurde, der kein Vertragsstaat ist.

Seit dem Erlass des Haftbefehls im März 2023 hat Putin keinen der Vertragsstaaten des IStGH besucht. Bemerkenswerterweise nahm er nicht am BRICS-Gipfel in Südafrika teil, nachdem er mit der dortigen Regierung gesprochen hatte. Russland revanchierte sich durch die Einleitung von Strafermittlungen gegen den Chefankläger des IStGH Karim Khan sowie fünf IStGH-Richter, die auf die Fahndungsliste gesetzt wurden. Russland hat zudem die Unterstützung und die Zusammenarbeit mit dem IStGH unter Strafe gestellt und damit zusätzliche gesetzliche Mittel zur Verfolgung von russischem Widerstand gegen den Krieg geschaffen.

Dem Jahresbericht des IStGH zufolge, der im Oktober 2023 der UNO vorgelegt wurde, sind seit Beginn der Ermittlungen über 2.000 Anzeigen durch die Kanzlei registriert worden. Im September 2023 öffnete der IStGH sein Kontaktbüro in Kyjiw. Seit Verhängung der nicht-öffentlichen Haftbefehle im März 2023, sind sehr wenige Informationen über die Ermittlungen durch die Anklagebehörde bekannt geworden.

Verfolgung des Verbrechens der Aggression

Was das Aggressionsverbrechen anbelangt, so besteht ein beträchtlicher Mangel an Möglichkeiten, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, da der IStGH dieses Verbrechen gegen die Ukraine nicht untersuchen und verfolgen kann. Das ergibt sich aus dem Kompromiss, der 2010 auf der Überprüfungskonferenz in Kampala erreicht wurde. Seit dem 17. Juli 2018 kann der IStGH seine Gerichtsbarkeit über das Aggressionsverbrechen ausüben, wenn sowohl der Aggressorstaat als auch der Opferstaat beide Vertragsparteien des Römischen Statuts sind. Die einzige Ausnahme hierbei ist, wenn ein Fall dem IStGH durch den UN-Sicherheitsrat übermittelt wird. Dieses Szenario ist in der jetzigen Situation allerdings unrealistisch, angesichts des Vetorechts der ständigen Mitglieder, u. a. der Russischen Föderation. Innerstaatliche Strafverfahren wegen des Aggressionsverbrechens, insbesondere im Opferstaat, haben eine fragliche Legitimität und bedeuten umso mehr praktische Schwierigkeiten. So betrachtet sich die Ukraine selbst an die persönliche Immunität hochrangiger russischer Staatsdiener gebunden (Externer Link: https://www.france24.com/en/tv-shows/the-interview/20220420-ukraine-s-prosecutor-general-i-expect-to-find-evidence-of-genocide-in-mariupol; Externer Link: https://www.lawgazette.co.uk/news/iba-2023-ukraine-seeking-watertight-evidentiary-base-for-genocide-charge/5117724.article). Diese oberste Riege in der russischen Staatsführung wäre jedoch das Hauptziel einer Ermittlung in Bezug auf das Aggressionsverbrechen.

Dieser Mangel an bestehenden Möglichkeiten, Verantwortliche juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, hat zu einer Debatte geführt, ob ein internationales Sondertribunal sinnvoll wäre, um die russische Führung für die Entfesselung ihrer Aggression zur Verantwortung zu ziehen. Der britische Professor Philippe Sands schlug vier Tage nach Beginn der Invasion ein solches Sondertribunal vor (Externer Link: https://www.ft.com/content/cbbdd146-4e36-42fb-95e1-50128506652c). Seine Forderung wurde schnell von einem Statement einer großen Gruppe von Anwält:innen und Rechtswissenschaftler:innen unterstützt, welche sich für die Einrichtung eines Sondertribunals aussprachen (Externer Link: https://gordonandsarahbrown.com/wp-content/uploads/2022/03/Combined-Statement-and-Declaration.pdf). Die Führung der Ukraine und Präsident Selenskyj unterstützten diese Initiative uneingeschränkt (Externer Link: https://www.dw.com/en/ukraines-zelenskyy-calls-for-special-tribunal-at-the-hague/a-65511438).

Die Idee eines Sondertribunals für das Verbrechen der Aggression wurde darüber hinaus durch eine Resolution des Europäischen Parlaments und in noch ausdrücklicher Form durch eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) unterstützt (Externer Link: https://pace.coe.int/en/files/31620). Die Staats- und Regierungschefs des Europarates begrüßten die Fortschritte hin zur Schaffung des Sondertribunals, wie es auf dem Gipfel der Kerngruppe unter Vorsitz von Präsident Selenskyj vorgebracht wurde, in ihrer Erklärung von Reykjavik vom 17. Mai 2023.

Das Szenario, das derzeit von der Ukraine und einigen ihrer Verbündeten (vor allem in Mittel- und Osteuropa) unterstützt wird (Externer Link: https://www.justsecurity.org/86766/the-lithuanian-case-for-an-international-special-tribunal-for-the-crime-of-aggression-against-ukraine/), würde ein Tribunal durch einen Vertrag zwischen der Ukraine und den Vereinten Nationen vorsehen, unterstützt durch eine Resolution der Generalversammlung (Variante eines internationalen Tribunals). Ein solches Tribunal würde über eine größere internationale Legitimität verfügen und wäre in der Lage, die Frage der persönlichen Immunität des Staatsoberhauptes und anderer höherer Vertreter des russischen Staates zu umgehen.

Gleichzeitig haben mehrere Völkerrechtler:innen die Initiative kritisiert und die Legitimität des vorgeschlagenen Sondertribunals in Frage gestellt. Diese vermuten, dass die Unterstützung der Resolution unter den UN-Mitgliedern wahrscheinlich nicht groß sein werde, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass die Resolution legitime Bedenken des Globalen Südens in Bezug auf die Straflosigkeit vergangener Verbrechen der Aggression nicht berücksichtige. Das gelte vor allem für die Invasion des Irak 2003 durch eine US-amerikanisch geführte Allianz von Staaten und andere Fälle von "Doppelmoral" (Externer Link: https://opiniojuris.org/2022/03/07/creating-a-special-tribunal-for-aggression-against-ukraine-is-a-bad-idea/; Externer Link: https://verfassungsblog.de/ukraine-sondertribunal-mit-legitimationsproblemen/). Sie schlugen vor, stattdessen ein "internationalisiertes" Tribunal (Variante eines internationalisierten Tribunals ) mit einigen "internationalen Elementen" (z. B. internationalen Richter:innen, internationaler Finanzierung und Unterstützung durch Expert:innen) zu schaffen, welches im ukrainischen Justizsystem verankert wäre.

Am 18. April 2023 unterstützten die Außenminister der G7-Staaten Überlegungen zur Schaffung eines, in das ukrainische Justizsystem integriertes, internationalisierten Tribunals. Dem folgten Bemerkungen der US-Botschafterin Beth von Schaack (Externer Link: https://www.state.gov/ambassador-van-schaacks-remarks/) die erklärte, dass die USA die Arbeit an einem solchen Tribunal unterstützten. Ein ähnliches Statement erfolgte durch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Externer Link: https://www.auswaertiges-amt.de/en/newsroom/news/strengthening-international-law-in-times-of-crisis/2573492). Dies wurde damit begründet, dass ein internationalisiertes Tribunal die naheliegendste Variante sei, auch hinsichtlich der Schwierigkeit, eine überzeugende Mehrheit in der Generalversammlung herzustellen. Bemerkenswert ist, dass die Einrichtung eines "internationalisierten" Tribunals gemäß der ukrainischen Verfassung nicht zulässig ist, welche die Einrichtung von Sondergerichten wie auch die Tätigkeit von Nichtukrainer:innen als Richter:innen verbietet (solange in der Ukraine Kriegsrecht herrscht, kann die Verfassung nicht geändert werden, Anm. d. Redaktion).

Viele der führenden Expert:innen stellen die Idee von einem "internationalisierten Tribunal" als ein von den USA geführter Versuch zur Schaffung einer schwächeren Institution in Frage, anstatt mit einem internationalen Sondergericht einen tatsächlichen Präzedenzfall zu schaffen, der es erlauben würde, Führungspersonen eines mächtigen Staates für das Aggressionsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen (Externer Link: https://www.justsecurity.org/85986/dont-be-fooled-by-u-s-smoke-and-mirrors-on-the-crime-of-aggression/; Externer Link: https://www.justsecurity.org/88373/making-counter-hegemonic-international-law-should-a-special-tribunal-for-aggression-be-international-or-hybrid/; siehe hierzu auch Kreß 2023).

Ausblick

Aktuell hält die Debatte noch an, doch es gibt bisher keine klaren Anzeichen dafür, dass eine der diskutierten Initiativen in absehbarer Zukunft umgesetzt werden wird. Allerdings sind einige praktische Schritte unternommen worden, um zukünftige Verfahren vorzubereiten. Am 5. März 2023 änderten die sieben Staaten, die am JIT beteiligt sind, ihr Abkommen, sodass das neu eingerichtete "International Centre for the Prosecution of the Crime of Aggression" (ICPCA) als unterstützende Struktur eingebunden wird. Das in Den Haag angesiedelte Zentrum würde den Fokus auf die Unterstützung und Förderung von Ermittlungen zum Verbrechen der Aggression legen, indem Beweise gesichert und der Aufbau von Verfahren befördert wird. Die Einrichtung des ICPCA wurde erstmals am 2. Februar 2023 von der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen verkündet.

Gleichzeitig hat die Aggression gegen die Ukraine die Debatte intensiviert, ob die Bestimmungen des Römischen Statuts zur Gerichtsbarkeit des IStGH hinsichtlich des Aggressionsverbrechens nicht reformiert werden sollten. Im Kern sollen durch die vorgeschlagenen Änderungen die Bestimmungen zur Gerichtsbarkeit mit denen der anderen völkerrechtlichen Verbrechen harmonisiert werden, so dass der IStGH trotz einer Untätigkeit des UN-Sicherheitsrates aktiv werden kann, damit der Aggressor nicht von seiner Nichtbeteiligung am IStGH profitiert.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Weitere Inhalte

Dr. Gleb Bogush ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center of Excellence for International Courts der Universität Kopenhagen. Er ist Mitglied der »Cologne-Bonn Academy in Exile«. Sein Forschungsinteresse richtet sich vor allem auf das Völkerstrafrecht und insbesondere auf das Aggressionsverbrechen.